Kapitel 2: In der Stadt sieht Nita vielleicht einen Mann, der ihr vor vielen Jahren ein Bier angeboten hat. (Juni 2014 / Juli 1995)

Da ist eine kleine Unreinheit auf der Haut, in der Mitte der Stirn, kein Pickel, aber eine geringfügige Abweichung vom Ebenmaß. Nita stört sich daran. Sie würde gerne mit dem Toilettenpapier über die Stelle reiben, bis die Haut wieder sauber wäre. Doch sie weiß um die Zwecklosigkeit. Darum beginnt sie, ihr Gesicht zu schminken, trägt eine mattierende Creme auf. Als sie zufrieden ist, nimmt sie die große Plastikflasche mit Körperlotion und verteilt sie auf ihrer Haut. Sie bedeckt ihre Brüste mit ihren Handflächen und schiebt sie leicht nach oben. Sie tut dies häufig, und sie fragt sich, woher diese Geste rührt. Es ist ein seltsamer Automatismus, eine eingeübte Bewegung. Wann hast du damit angefangen?

Sie zieht ein Sommerkleid an, weiß mit kleinen roten Blüten. Nach mehreren Regentagen ist das Wetter endlich wieder angenehmer, wenn auch noch relativ kühl für Ende Juni. Das Sommerkleid, es ist eigentlich zu dünn, zu kurz für diese Temperatur. Dennoch verzichtet Nita auf eine Jacke. Prophetische Symbolik hat ihren Wert, denkt sie, nimmt den Stoff des Kleides zwischen zwei Finger und hält kurz inne. Dann verlässt sie ihre Wohnung.

Auf der Straße spürt sie, wie die kühle Luft in ihre Haut beißt. Sie stellt sich vor, wie kleine giftige Lebewesen durch die Poren in ihren Körper eindringen und dort ihre Kälte verbreiten, jede Faser frieren und erzittern lassen.  Die winzigen Monster, sie sind unsichtbar, eigentlich inexistent, doch einige Sekunden lang sind sie das einzig Relevante in Nitas Leben, eine eisige Pest, die von ihr Besitz ergriffen hat. Sie reibt ihre Handflächen über ihre Oberarme, drückt die Schultern nach vorne und gegen innen, als ob es Wärme erzeugen würde, wenn man sich klein macht.

Sie ist häufig unterwegs in der Stadt, auch wenn sie alles andere als ein Stadtkind war und ist. Die Menschen sind ihr suspekt, doch gerade dann, wenn sie in solcher Vielzahl auftreten, fällt es ihr leichter, sich direkt unter sie zu mischen und sich gleichzeitig vor ihnen zu verstecken. Sie geht den Gassen entlang, blickt lustlos in die Schaufenster. Merkwürdige Kleider hängen an dünnen Kunststoffkörpern, und ihr fällt auf, dass die Schaufensterpuppen oftmals eine ziemlich arrogante Körpersprache sprechen, ihre Posen erzählen von einem Leben, dass sich die beliebigen Passantinnen auf der anderen Seite der Glasscheibe zwar erträumen mögen, sich aber nie werden leisten können. Nita lächelt ein wenig spöttisch und ist selbst nicht ganz sicher, ob sich ihre Häme an die Schaufensterpuppen oder an die beliebigen Passantinnen richtet.

Als sie ihn erblickt, ist es, als würde ihr Blick über eine Wurzel stolpern. Sie gerät aus dem Tritt und muss sich zuerst fangen, auffangen. Er sieht noch genau so aus wie damals, denkt sie, obwohl sie alles andere als überzeugt ist, dass er es überhaupt ist. Er sitzt auf einer Holzbank in der Fußgängerzone, allein und mit seltsam krummem Rücken, als würde ein Gewicht auf seinen Schultern lasten. Sein Blick haftet am Boden, lässt sich nicht beirren, auch nicht von einer Taube, die einen Meter von ihm entfernt Krümel vom Asphalt pickt. Er trägt dunkelgraue Hosen und eine hellgraue Jacke, dazu riesige rot-weiße Turnschuhe, die ihm etwas Clowneskes verleihen. Sie kann kaum glauben, dass sie sich in ihn hatte verlieben können, damals vor beinahe zwanzig Jahren.

Nita setzt sich ebenfalls auf eine Bank, in einiger Entfernung zu ihm. Er starrt unbeirrt zu Boden, während zwischen ihm und Nita unzählige Menschen vorübergehen und dabei das Bild vor ihren Augen verzerren. Sie mustert den Mann auf der Parkbank, vergleicht ihn mit dem Bild von Pepe. Es war nicht sein richtiger Name, aber man nannte ihn so, jeder in der Nachbarschaft nannte ihn so. Auch Nita nannte ihn so. Vielleicht wäre er als Peter – wie er tatsächlich hieß – ein anderer Mann gewesen. Und vielleicht wäre Nita dann eine andere Frau geworden.

***

Sie war dreizehn Jahre alt, doch wie die meisten Dreizehnjährigen fühlte sie sich deutlich älter. Zwar verbot ihre Mutter ihr, Make-up aufzutragen, doch Nita redete sich so lange ein, dass ihr Gesicht geschminkt sei, bis es gar keine Rolle mehr spielte, ob es den Tatsachen entsprach. Sie achtete darauf, dass ihre Schritte nicht die Schritte eines Kindes waren, sondern die Schritte einer schönen und begehrenswerten Frau, einer Schauspielerin vielleicht, oder eines Models, aber nicht Claudia Schiffer, sondern Cindy Crawford. Sie mochte deren Leberfleck. Einmal malte sie sich mit einem wasserfesten Filzstift ebenfalls einen Leberfleck über die Oberlippe. Ihre Mutter schüttelte nur verständnislos den Kopf. Ihr Vater hingegen lächelte. Als sie seine schiefen Zähne aufblitzen sah, verspürte sie eine merkwürdige Euphorie in ihr aufsteigen.

Eines Tages unterhielt sich ihr Vater im Garten mit einem Mann, den sie schon einige Male gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hatte. Die beiden Männer waren wohl etwa gleich alt, doch ihr Vater wirkte älter und kleiner als üblich.

«Anita!», rief ihr Vater ihr zu, als sie aus der Tür trat. «Komm her und sag kurz Hallo zu Pepe.»

Anita kam und sagte Hallo. Der Mann blickte ihr in die Augen, streckte ihr die Hand entgegen und gab scheinbar banalen Worten einen besonderen Klang.

«Hallo Anita, ich bin Pepe.»

«Pepe», hauchte Nita, viel zu leise und zu unsicher für eine Frau wie Cindy Crawford.

«Ich bin euer neuer Nachbar. Ich wohne seit einigen Wochen im Haus gegenüber.»

«Okay.»

«Freut mich, dich kennenzulernen», sagte Pepe.

«Okay», gab Nita zurück.

Dann redeten Pepe und ihr Vater wieder miteinander. Sie hatte nicht den Eindruck, etwas zum Gespräch beitragen zu können, doch in jenem Moment wollte sie die Szene nicht einfach so wieder verlassen, sie wollte noch ein wenig bleiben, neben diesen beiden Männern, die mit der Luft und dem Licht etwas anstellten, wozu beispielsweise ihre Mutter nicht in der Lage war. Sie blickte abwechselnd zu Pepe und zu ihrem Vater, betrachtete die Bewegungen ihrer Lippen, das faszinierende Hüpfen des Kehlkopfes. Als er bemerkte, dass sie ihn anstarrte, lächelte Pepe. Sie zuckte zusammen und ging zurück ins Haus. Zu schnell, zu plump, natürlich.

In der Folge sah sie ihn häufig. Er verbrachte viel Zeit in seinem kleinen Garten, pflanzte Blumen an, besserte einige kahle Rasenflächen aus, hängte ein Vogelhaus an den kleinen Nussbaum. Mit nahezu religiösem Eifer hegte er das kleine Gemüsebeet in der Ecke des Grundstücks, stand manchmal minutenlang vor den jungen Pflanzen und schien mit leiser Stimme auf sie einzureden. Nita beobachtete Pepe meistens aus ihrem Zimmer, aus sicherer Distanz und verborgen hinter einem Tagesvorhang. Wenn Pepe jeweils zu ihr hochblickte, wusste sie eigentlich, dass er sie gar nicht sehen konnte hinter dem Vorhang. Dennoch wagte sie kaum zu atmen und befürchtete, dass schon ein leichtes Zucken im Gesicht sie verraten würde.

An sonnigen und warmen Tagen streifte Pepe sein Hemd oder Shirt ab und arbeitete mit nacktem Oberkörper. Er war nicht ganz so schlank wie ihr Vater, aber sie fand Pepe trotzdem schöner, irgendwie. Vor allem war er anders. Sie mochte den kleinen Bauch, der seltsam unbeholfen nach unten hing, wenn er sich bückte, mochte die kleinen Hügel an den Hüften. Manchmal trank Pepe ein Bier und wischte sich mit dem Unterarm die Lippen trocken, und in diesen Momenten sah er genau so aus wie der Mann, der mit der gleichen Bewegung Fernsehwerbung für eine Biersorte machte. Bisweilen dachte sie, dass es sich bei Pepe um diesen Mann handelte, dass diese Person, die jeden Abend im Fernsehen zu sehen war, ihr Nachbar war. Sie änderte auch ihre Meinung über Bier. Zuvor war es das seltsame Gebräu, das ihr Vater hin und wieder trank und das ihm stets ein übelriechendes Rülpsen entlockte. Nun war es ein nahezu edles Getränk, das hart arbeitenden Menschen als wohlverdiente Belohnung diente. Zumindest dann, wenn Pepe es trank.

Manchmal war Pepes Frau bei ihm im Garten, half ihm oder versuchte es zumindest. Eigentlich hieß sie Francesca, aber sie nannte sich Franca. Nita, damals noch Anita, wunderte sich, warum sich sowohl Pepe als auch Franca von ihren ursprünglichen Namen gelöst hatten. Was sie mit ihrem eigenen Ich hadern ließ. Sie fragte sich, ob man überhaupt sich selbst bleiben konnte, wenn man plötzlich einen anderen Namen trug. Der Name war keine Frisur, die man sich einfach neu schneiden lassen konnte, kein Kleidungsstück, dass man täglich wechseln konnte. Der Name, das war man selbst, das war eine Erklärung, das war etwas, das unwiderruflich mit der eigenen Person verbunden war. Wer sich in einen neuen Namen fügte, musste sich auch in ein neues Ich fügen.

Diese Namensverwirrung, sie war Nita im Falle von Pepe durchaus nicht unsympathisch. Bei Franca hingegen schien sie ihr suspekt, weckte ein gewisses Misstrauen in ihr. Überhaupt blieb sie ihr stets fremd und kalt. Wenn sie sah, wie Franca zu ihrem Mann in den Garten trat, verdrehte Nita die Augen, fluchte leise und wandte sich ab. Dabei war Franca stets freundlich, sehr freundlich sogar. Sie pflegte in die Hocke zu gehen, wenn sie mit Nita sprach, obwohl der Größenunterschied zwischen ihnen gar nicht sonderlich groß war. Vielleicht war es das. Vielleicht war es dieses Anbiedern.

So ausgeprägt ihre Abneigung gegenüber Franca war, so berauschend war auch die Freude, wenn sich Nita sicher war, dass Pepe allein zu Hause war. Nita wagte sich mit jedem Mal näher an ihn heran. Zunächst blieb sie auf ihrem Grundstück, saß auf der alten Schaukel neben dem Haus oder tat so, als würde sie ein Buch lesen. Doch allmählich wuchs der Mut in ihr, und dieser aufkeimende Mut, er ließ etwas in ihr seinen freien Lauf nehmen; sie  spürte geradezu, wie ihr Inneres in alle Richtungen drängte und ihren Körper zum Wachsen antrieb. Eines Tages betrat Nita das Grundstück ihrer Nachbarn und versuchte in äußerst unbeholfener Manier, ein Gespräch mit Pepe zu beginnen.

«Euer Garten ist schön», sagte sie und war überrascht, wie gelangweilt sie ihre Stimme klingen lassen konnte.

«Danke, Anita. Freut mich, dass er dir gefällt», gab Pepe freundlich zurück.

Sie starrte auf den Boden vor seinen Füssen. Da lag ein großer Kieselstein, dessen Form an eine Faust erinnerte.  Sie hätte ihn gerne hochgenommen und Pepe geschenkt, im drängenden Bestreben, irgendetwas zu tun, um die Zeit voranzutreiben und der merkwürdigen Unbeweglichkeit des Moments zu entrinnen. Doch Pepe ließ es nicht dazu kommen. Er begann, ihr von den kleinen Tomaten zu erzählen, die man am Anfang noch mit dünnen Stäben stützen musste, damit sie wachsen konnten. Er redete über die Farbenvielfalt der Lilien, über die Sonnenblume, die sich stets zur Sonne wendeten. Nita interessierte sich nicht wirklich für Botanik, doch sie hörte ihm aufmerksam zu, fragte nach, nickte an einigen Stellen. Sie war überrascht von der Art und Weise, wie Pepe mit ihr sprach. Ihre Eltern klangen ganz anders, manchmal liebevoll, manchmal belehrend, manchmal banal, aber immer so, dass der Unterschied zwischen ihnen und Nita deutlich wurde, die verschiedenen Rollen. Sie machten ihr unbewusst, aber unmissverständlich klar, dass sie an einem vollkommen anderen Punkt im Leben standen als Nita. Bei den Lehrern war dieses Gefälle noch stärker ausgeprägt, bei noch fremderen Menschen sowieso. Doch die Stimme von Pepe, sie schien nicht von weit oben oder aus der Ferne zu kommen. Sie war genau dort, wo sie selbst auch war, ganz in ihrer Nähe. Zwar ließ sich dies auch über ihre Freundinnen sagen, doch bei diesen war der Inhalt des Gesagten allzu häufig unerträglich nichtssagend und fad. Pepes Sätze waren bedeutsam, jedes einzelne Wort hatte Gewicht. Selbst wenn er nur von Blumen sprach.

Bald darauf musste sich Franca einer Operation unterziehen lassen. Nichts Dramatisches, hieß es, etwas am Rücken oder an der Hüfte. Es war Nita eigentlich egal, doch da Franca einige Tage im Krankenhaus bleiben musste, war Pepe allein zu Hause, was bei Nita wiederum ein außergewöhnliches Hochgefühl auslöste.

Es war Samstag. Ihre Eltern waren über das Wochenende weggefahren, und Martin, ihr Bruder, war mit seinen Freunden unterwegs. Der Himmel war wolkenlos, und sobald die Luft genügend warm war, ging Nita hinaus auf die Wiese hinter dem Haus, legte sich auf die Sonnenliege und begann, ein Buch zu lesen. Sie trug kurze Hosen und ein Bikinioberteil, dazu die Sonnenbrille ihrer Mutter, und während die Sonne ihre Haut wärmte, fühlte sich ihr Körper irgendwie anders an als sonst, größer, wichtiger.

Nita lag vielleicht eine halbe Stunde auf der Liege, als Pepe aus seinem Haus trat und anfing, im Garten zu arbeiten. Er hegte keine Blumen oder grub Erde um, sondern schliff einen hölzernen Gartentisch ab. In regelmäßigen Bewegungen ließ er den Schleifblock immer wieder über die Holzlatten gleiten, blies bisweilen den Holzstaub weg, prüfte die Oberfläche mit der flachen Hand. Als er mit Schleifen fertig war, wischte er den Tisch mit einem Lappen ab und begann dann, einen Lack aufzutragen. Während er am Tisch arbeitete, beobachtete ihn Nita unaufhörlich. Zwar hielt sie sich weiterhin das Buch vors Gesicht, aber ihr Blick richtete sich stets auf ihn. Dank der Sonnenbrille ihrer Mutter war ihre Tarnung perfekt.

Pepe trug kurze Hosen, sein Oberkörper war nackt, auf der Brust glitzerte eine dünne Schicht Schweiß. Hin und wieder richtete er sich auf, drückte seinen Rücken durch und blickte zu Nita herüber. Sie wagte kaum zu atmen, sah sein Gesicht, spürte seinen Blick, wollte aber auf keine Fall, dass er merkte, wie sie ihn beobachtete. Wenn er wieder weiterarbeitete, schnappte sie leise nach Luft.

Irgendwann ging Pepe ins Haus und kam kurze Zeit später wieder aus dem Haus, mit einer Bierflasche in der Hand. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Schluck aus der Flasche und trat an den schmalen Holzzaun, der die beiden Grundstücke trennte.

«Genießt du die Sonnenstrahlen?», fragte Pepe.

«Ähm, ja, schon», stammelte Nita und nahm die Sonnenbrille ab. Sie richtete sich ein wenig zu hastig auf und musste sich an der Kante der Sonnenliege abstützen, ihr Buch fiel zu Boden.

«Gutes Buch?», wollte er wissen.

«Ich glaube schon, ja», sagte Nita und verfluchte sich für die Plattheit ihrer Antwort. Doch Pepe lächelte und zog an seiner Zigarette.

«Willst du was trinken?», wollte er wissen.

«Okay.»

«Magst du rüberkommen?»

«Okay.»

Das Grundstück von Pepe und Franca war eine gänzlich neue Welt, weit weg von ihrem eigenen Garten, die wenigen Meter Distanz waren eine Täuschung. Schon die Luft wirkte anders, stand beinahe still, die Geräusche der Welt klangen seltsam dumpf und leise. Sie ging vorsichtig über den akkurat geschnittenen Rasen hin zum kleinen Platz beim Haus, auf dem Pepe den Tisch bearbeitet hatte.

«Was magst du trinken? Wasser? Cola? Bier?»

Nita zuckte zusammen und lächelte nervös.

«Cola. Für Bier bin ich zu jung.»

«Ach ja? Aber du bist doch kein Kind mehr. Du bist eine hübsche junge Frau.»

Nita suchte auf dem Boden nach einen Stein, der wie eine Faust aussah. Sie wusste nicht, was sie entgegnen sollte.

«Wie alt bist du eigentlich?», fragte Pepe.

«Dreizehn.»

«Mein erstes Bier habe ich auch als Dreizehnjähriger getrunken, glaube ich.»

«Wirklich?», gab Nita zurück und blickte ihm kurz ins Gesicht, wunderte sich, wie er wohl ausgesehen hatte als Dreizehnjähriger.

«Ja. Aber du musst natürlich kein Bier trinken, wenn du nicht willst.»

Nita blickte wieder zu Boden, dann hinüber zu ihrem Haus, auf das Buch, das noch immer neben der Sonnenliege lag, auf die Sonnenbrille, die sie liegengelassen hatte. Schließlich wandte sie sich wieder Pepe zu.

«Na gut, ich nehme eins.»

Sie hatten sich beide auf eine hüfthohe Mauer beim betonierten Sitzplatz gesetzt. Nita nahm kleine Schlucke aus der Flasche und versuchte, ihren Widerwillen zu verbergen. Das Bier schmeckte bitter, faulig, ungewohnt. Pepe rauchte eine weitere Zigarette und erzählte, wie er den Tisch von einer Tante bekommen habe, er aber in einem fürchterlichen Zustand gewesen sei.

«Er sieht schön aus, der Tisch», sagte Nita leise.

«Findest du? Danke!»

«Ist er schon trocken?»

«Der Lack? Ich glaube schon. Du kannst ihn gerne mal anfassen.»

«Ja. Ist trocken», sagte Nita, nachdem sie die Tischplatte mit einem Finger berührt hatte.

«Gut», murmelte Pepe und blickte hinüber zur Sonnenliege. «Warum bist du eigentlich an einem sonnigen Samstag nicht mit deinen Freunden unterwegs? Oder mit deinem Freund?»

«Ich habe keinen Freund», wisperte Nita.

«Echt nicht? Aber die Jungs werden sich wahrscheinlich um dich prügeln, nicht wahr?»

«Ich glaube nicht.»

«Also ich würde mich um dich prügeln.»

Nita versuchte zu lächeln, wusste aber nicht, wie gut es ihr gelang. Nach einem kurzen Räuspern nahm sie einen weiteren kleinen Schluck aus der Flasche. Sie verschluckte sich, was unweigerlich einen Hustenanfall nach sich zog.

«Geht‘s?», fragte Pepe besorgt und legte seine Hand auf ihren Rücken, direkt über dem Verschluss ihres Bikinioberteils. Während sie versuchte, ihren Husten unter Kontrolle zu bringen, streichelte er ihre Haut, bewegte seine Finger langsam zu ihrer Schulter. Seine Handflächen waren grob und furchig, wie Schleifpapier. Nita registrierte nicht, ob sie kalt oder warm waren. Allmählich ließ der Hustenreiz nach, der Hals beruhigte sich. Pepes Hand lag noch immer auf ihrer Schulter, sie roch das Bier in seinem Atem, die Zigaretten. Erneut suchte sie einen Stein auf dem Boden, in der Form einer Faust, eines Herzens, eines Tierkopfes, doch da waren lediglich gleichförmige Betonplatten, regelmäßig angeordnet, grau und trist. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Muskelkontraktion tatsächlich gespürt hatte, ob er sie wirklich zu ihm hingezogen hatte oder nicht. Umso deutlicher bemerkte sie, wie seine Hand immer weiter nach unten glitt, das Schleifpapier schob sich über ihre Haut, hin zu ihrer rechten Brust. Einige Sekunden lang verharrte sie noch, machte sich so schmal und starr wie möglich. Dann stand sie ruckartig auf.

Auch Pepe war aufgestanden. Zwischen ihnen lag der längste Meter der Welt. Nita starrte ihn an, war unfähig, etwas zu sagen, doch sie wusste, dass sie ihrem Gesichtsausdruck nicht allzu viel hinzufügen musste. Pepe lächelte zunächst, dann sanken seine Mundwinkel langsam nach unten. Schließlich wich er ihrem Blick aus. Nita stellte die halbvolle Bierflasche auf die Mauer, bedankte sich murmelnd und ging zurück in ihren Garten. Sie hob ihr Buch hoch, setzte die Sonnenbrille wieder auf und ging ins Haus. Sie spürte Pepes Blicke in ihrem Rücken, doch sie drehte sich nicht mehr um.

Am nächsten Tag arbeitete Pepe erneut im Garten, ließ einer Holzbank die gleiche Behandlung zuteil werden wie am Tag zuvor dem Tisch. Er schliff die Holzlatten ab, blies den Staub weg, prüfte die Oberfläche mit seiner flachen Hand und ihrer rauen Schleifpapierhaut. Dann trug er den Lack auf.

Obwohl es abermals sonnig und warm war, blieb Nita im Haus, stand in ihrem Zimmer hinter dem Tagesvorhang und starrte in den benachbarten Garten. Pepe wirkte anders als sonst, irgendwie schwerer, müde, beinahe so, als wäre er über Nacht um zehn oder sogar zwanzig Jahre gealtert. Nita beobachtete ihn, wie er das Holz lackierte und sich mit dem Handrücken immer wieder den Schweiß von der Stirn wischte. Bisweilen klammerte sich ihr Blick an seine Hände, an diese groben und unförmigen Anhängsel. Sie spürte die furchige Haut seinen Hand auf ihrem Rücken und zuckte unvermittelt zusammen.

Auch als ihre Eltern am Nachmittag von ihrem Wochenendausflug zurückkehrten, stand Nita hinter dem Tagesvorhang, erneut oder noch immer. Die Eltern kamen mit Pepe ins Gespräch, wahrscheinlich erzählten sie von ihrer kurzen Reise oder fragten nach Francas Befinden. Irgendwann redeten sie offensichtlich über Nita, denn ihre Mutter, ihr Vater und Pepe blickten gleichzeitig hoch zum Fenster ihres Zimmers. Nita erschrak so heftig, dass ihre Hand leicht nach vorne schnellte und den Vorhang berührte. Er bewegte sich kaum. Doch er bewegte sich. Und natürlich war es möglich, dass weder ihre Eltern noch Pepe etwas bemerkt hatten. Natürlich war es möglich.

Ihre Eltern fragten beiläufig, wie ihr Wochenende war. Nita zuckte mit den Schultern, als ob sie sich darüber nicht im Klaren wäre. Ihre Mutter begann, vom Hotel zu erzählen, in welchem sie übernachtet hatten, aber Nita hörte ihr kaum zu.

Danach sah sie Pepe nur noch selten, sie stand nicht mehr am Fenster hinter dem Vorhang, und wenn sie aus dem Haus ging, während er im Garten arbeitete, grüßte sie ihn möglichst beiläufig oder ignorierte ihn.

Einige Monate später zog Franca aus dem Haus aus, warum auch immer. Fremde Männer trugen Möbel, Kisten und Taschen in einen Transporter, der irgendwann davonfuhr. Schließlich wurde Franca von einem Taxi abgeholt und stieg ein, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Bald darauf war auch Pepe weg. Nita bemerkte es erst, als ein Pärchen vor dem Haus stand und sich darüber unterhielt, wie es wäre, hier zu wohnen. Als sie ihren Vater fragte, was mit Pepe geschehen sei, meinte er lediglich, dass er vor einigen Tagen ausgezogen sei. Sie ging zum Fenster ihres Zimmers und blickte nach unten in den Garten, in dem noch immer der Gartentisch und die Holzbank standen, die Pepe offensichtlich zurückgelassen hatte. Unter dem Tisch lag ein kleiner Fetzen Schleifpapier.

***

Nita hat ihn seither nicht mehr gesehen. Und nun sitzt er da, einige Meter von ihr entfernt. Sie sucht sein Gesicht nach Indizien ab, die ihn eindeutig als Pepe identifizieren. Es ist denkbar, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass es sich nicht um ihn handelt, doch die Möglichkeit, dass er es ist, macht sie nervös und neugierig zugleich. Sie fragt sich, wie sie sich verhalten würde, wenn er aufstehen und auf sie zukommen würde, wenn er sie erkennen und einordnen könnte. Wie sollte sie ihn begrüßen? Was sollte sie sagen? Sollte sie überhaupt etwas sagen oder lediglich distanziert nicken?

Der Mann auf der Parkbank macht keine Anstalten, sich zu bewegen. Noch immer ist sein Blick starr auf den Boden gerichtet, womöglich auf der Suche nach einem kleinen Stein, der die Form einer Faust hat. Eigentlich musst du aufstehen und zu ihm hingehen, denkt Nita. Du könntest ihm ein Bier anbieten oder ihm ins Gesicht spucken oder ihm die Hand reichen oder ihn einfach kopfschüttelnd anstarren. Doch Nita tut nichts dergleichen. Sie sitzt einfach da und wartet, bis der Mann aufsteht, sie wartet, bis er fortgeht, sie wartet, bis er irgendetwas tut.

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