Manchmal denkt Louis, dass er doch einfach hätte weitergehen sollen. Nicht stehenbleiben, nicht hinsehen, nicht ausbrechen aus seinem Weg. Er hätte doch einfach so tun sollen, als sei ihm gar nichts aufgefallen. Er hätte doch. Gleichzeitig ist er dankbar, dass er stehengeblieben ist. Dass er ausgebrochen ist.
***
Es war einer jener Tage, die sich nicht von anderen unterscheiden. Er sah die üblichen Menschen, sprach mit ihnen über die üblichen Themen, saß auf dem üblichen Bürostuhl, starrte in den üblichen Bildschirm, tippte auf die üblichen Tasten, aß zu Mittag das übliche Schinkensandwich, trank den üblichen Kaffee und ging um die übliche Zeit vom Büro nach Hause. Dieses Übliche, es war ihm nicht nur egal, sondern durchaus angenehm. Man konnte sich gut am Üblichen festhalten.
Am Abend jenes üblichen Tages, ein Freitag, wollte er mit seinem Bruder Frederic ins Kino gehen, doch dieser sagte kurzfristig ab. Louis ging trotzdem hin, alleine. Er ging gerne alleine ins Kino, konnte sich umso mehr auf einen Film einlassen, wenn niemand neben ihm saß, der mit ihm über die Nichtigkeiten und Wichtigkeiten des Lebens reden wollte. Ein Abend im Kino war eine Abweichung vom Üblichen, doch Louis ließ sie zu. Es lief In einer besseren Welt von Susanne Bier mit Mikael Persbrandt, Trine Dyrholm und Ulrich Thomsen. Louis weinte an einer Stelle, vielleicht auch ein weiteres Mal, aber nur kurz, ganz still. Wahrscheinlich hätte er nicht geweint, wenn Frederic dabei gewesen wäre. Sein Bruder war ganz anders als er. Frederic sah aus wie ein Holzfäller, schien beständig den Sitz seiner Hoden zu prüfen, bezeichnete Frauen als Hasen und war darauf bedacht, allfällige Aufwallungen von Emotionen bereits im Ansatz durch einen lapidaren Ausspruch oder einen hastigen Themenwechsel zu entkräften. Er hätte sich bei In einer besseren Welt im besten Fall gelangweilt. Im wahrscheinlichsten Fall hätte er zu möglichst unpassenden Zeitpunkten möglichst unpassende Bemerkungen in den Kinosaal entweichen lassen. Doch diese Bemerkungen blieben aus, neben Louis waren vielleicht noch fünfzehn andere Menschen im Kino, und keiner von ihnen ließ sich von berührenden Szenen aus dem Gleichgewicht bringen. Als das Publikum nach dem Abspann den Saal verließ und schweigend ins Foyer schlich, wechselte Louis einige Blicke mit einer älteren Frau, der die Rührung ob des soeben Gesehenen deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Louis nickte ihr zu und lächelte, die Frau lächelte zurück, und in jenem Moment glaubte sich Louis in einem Umfeld, das ihm vertrauter war als jenes im Büro oder bei Treffen mit der erweiterten Familie.
Wie immer, wenn er aus dem Kino trat, schien ihm die Welt verändert, eine andere Luft hing über dem Asphalt, ungewohnte Geräusche waren zu hören, die Straßenlaternen wirkten heller und klarer als sonst. Er schaute sich um, ob die ältere Dame noch zu sehen war, doch er fand sie nicht. Schließlich ging er los, kaufte sich einen Becher Cola im Schnellrestaurant neben dem Kino.
Während er den Gassen entlangging, hörte er das Rufen der Jungen und Junggebliebenen, das Krächzen der Betrunkenen und das Aufheulen von Motoren. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass er kein Stadtmensch war und auch niemals einer werden würde. Nicht nur widerstrebten ihm die Hektik, der Lärm, die vielen Menschen. Auch fürchtete er sich, gerade in solchen Situationen wie jetzt, allein in der relativen Dunkelheit. Jeder junge Mann machte ihm Angst, jede lautstarke Menschengruppe sowieso. Die Tatsache, dass ihm in der Stadt noch nie etwas Unheilvolles zugestoßen war, ließ ihn lediglich zum Schluss kommen, dass mit jedem Mal die Wahrscheinlichkeit größer wurde, dass er angegriffen, überfallen und verletzt werden würde.
Er klammerte sich an die Geschehnisse des Filmes, an die großen Themen, in die sich das Drehbuch stürzte. Es ging um Gewalt, es ging um Familie, es ging um Schuld, es ging um die Randregionen der Gesellschaft, und natürlich wusste Louis, dass jedes Bild im Film eine Inszenierung war, dass jedes dargestellte Gefühl eine Lüge war. Doch er beneidete die Schauspieler, beneidete sie um die Lebendigkeit, die ihnen zu widerfahren schien. Natürlich hätte er niemandem von diesem Neid erzählt. Doch in jenem Moment, in jener kühlen Frühlingsnacht, alleine auf dem Weg nach Hause, betrübte ihn der Neid.
Zunächst fiel sie ihm tatsächlich nicht auf. Er war schon an ihr vorübergegangen, als er ihr leises Ächzen hörte. Im ersten Moment vermutete er ein verletztes Tier, doch spätestens, als er erkannte, wie sich ihr Körper im hohen Gras abzeichnete, wusste er, dass dort ein Mensch lag, ein Mensch, der sich nicht sonderlich wohl fühlte. Er näherte sich vorsichtig, wohl noch immer mit der Möglichkeit im Hinterkopf, dass es sich doch um ein waidwundes Tier handeln könnte.
«Hallo?», sagte er leise. «Geht es ihnen gut?»
Die Person gab keine Antwort, und Louis ging nochmals einige Schritte auf sie zu. Im schwachen Schein einer fernen Straßenlaterne konnte er eine helle Jacke erkennen, ebenso Beine in Strumpfhosen, weiter oben war ein Rock zu vermuten.
«Kann ich Ihnen helfen?», fragte Louis, nun ein wenig selbstbewusster, da er relativ sicher war, dass ihm selbst nichts zustoßen würde.
«Ich bin… Scheiße! Ich bin… ah… gestürzt!», stammelte die Frau und schien ehrlich überrascht.
«Sind Sie verletzt?», wollte Louis wissen und kniete sich neben sie hin.
«Das sind wir doch alle», zischte sie.
«Tut Ihnen etwas weh? Können Sie aufstehen?»
Die Frau richtete sich auf, kippte aber sogleich wieder zur Seite. Erst jetzt fiel Louis das Fahrrad auf, das neben ihr im Gras lag.
«Ist das Ihr Fahrrad?»
«Eigentlich… Eigentlich nicht. Nicht so richtig. Aber ich bin damit gefahren. Und dann… dann bin ich wohl falsch abgebogen. Dort oben.» Sie zeigte auf eine Stelle auf einer kleinen Anhöhe. Dort verlief die Hauptstraße.
«Sie sind von da oben hier runter gefahren?», fragte Louis ungläubig.
«Ich glaube schon, ja. Nicht absichtlich.»
Er versuchte, sie auf die Beine zu stellen, doch sie bevorzugte es, im Gras sitzen zu bleiben. Er setzte sich neben sie und spürte, wie die Feuchtigkeit der Erde auf seine Hose übergriff. Während er versuchte, sich irgendwie auf die Hände zu stützen, damit sein Hintern nicht so stark auf den Boden drückte, bemerkte er, wie sie ihren Körper gegen seinen kippen ließ. Als er registrierte, wie sie sich zudem allmählich nach hinten neigte, legte er rasch seinen Arm um sie. Er wollte sie nur vor dem erneuten Hinfallen bewahren, doch er hatte den Eindruck, etwas Unanständiges zu tun, etwas Verbotenes.
«Kann ich… Kann ich Sie nach Hause bringen? Wo wohnen Sie denn?»
Sie murmelte ihre Adresse, doch er verstand nur die Hälfte. Als er nachfragte, bellte sie ihm die Adresse unwirsch ins Gesicht. Er richtete sich auf und zog sie hoch.
«Na los, gehen wir. Ihr Bett ruft nach Ihnen, ich kann es hören.»
«Du bist witzig!», rief sie und klang so, wie nur Betrunkene klingen.
«Das bezweifle ich», gab er zurück und versuchte, sie zu stützen und gleichzeitig das Fahrrad aufzurichten.
«Doch, du bist witzig», beharrte sie. «Und du bist lieb.»
Während sie nebeneinander den stummen Straßen entlanggingen, hielt Louis mit einer Hand den Fahrradlenker fest und hatte die andere Hand um die Hüfte der Frau gelegt. Hin und wieder geriet sie aus dem Tritt, doch es gelang ihm, sowohl sie als auch das Fahrrad nicht umkippen zu lassen.
«Ich bin Louis», sagte er. «Und du?»
«Nita», gab sie mit belegter Stimme zurück.
«Anita?», fragte Louis nach.
«Nein! Nita!», erwiderte sie, mit einer lustlosen Empörung in der Stimme.
«Nita», verbesserte er sich. «Schöner Name.»
«Lou ist auch schön.»
«Louis.»
«Ach so.»
Louis fragte Nita noch einmal danach, wo sie wohnte, doch dieses Mal nannte sie eine gänzlich andere Adresse als zuvor, am entgegengesetzten Ende der Stadt. Louis schlug vor, für Nita ein Taxi zu rufen, doch sie wollte kein Taxi, schon allein wegen des Fahrrades, obschon es wohl nicht ihr Fahrrad war. Schließlich sagte Louis etwas widerwillig und beinahe kleinlaut, dass sie bei ihm übernachten könnte, falls sie möchte.
«Okay.»
Am nächsten Morgen stand Louis am großen Fenster seines Wohnzimmers, in der Hand eine dampfende Kaffeetasse, und starrte hinaus in den erwachenden Tag. Tiefhängende Wolken schickten Regenfäden hinab, nach dem kleinen Waldstück hinter dem Haus schien die Welt zu Ende, löste sich in helles Grau auf.
Louis hatte kaum geschlafen, zu ungewohnt war die Situation, dass jemand neben ihm lag. Während sie tief und mitunter schnaubend schlief, hatte er sie beobachtet, war den Linien ihres Körpers gefolgt, dem Saum ihres Slips, den Konturen, die sich unter dem T-Shirt abzeichneten, das er ihr geliehen hatte. Wenn sie sich bewegte, stellte er sich schlafend, nur um eine Minute später wieder seine Augen aufzuschlagen und sie erneut anzusehen. Einige Male streckte er seine Hand aus, berührte mit zitternden Fingern ihre Haut und schreckte sofort wieder zurück, empört ob seines Verhaltens und irritiert, weil sie einfach neben ihm lag, spärlich bekleidet, wunderschön, vertrauensvoll und friedlich, gerade so, als wäre dies vollkommen normal und natürlich, als wäre es schon immer so gewesen.
«Guten Morgen», murmelte sie hinter ihm, und er zuckte zusammen.
«Guten Morgen», gab er zurück und lächelte. «Ausgeschlafen?»
«Eigentlich nicht. Aber es geht schon.»
«Willst du einen Kaffee?»
«Gerne.»
Während er den Kaffee zubereitete, lehnte sie sich an die kleine Anrichte und sah aus dem Fenster. Wenn sie stand, war es offensichtlich, dass ihr sein T-Shirt deutlich zu groß war, außerdem wirkte sie beinahe tollpatschig in ihrer Schlaftrunkenheit. Dennoch hatte er vielleicht noch nie einen bezaubernderen Menschen gesehen als sie.
«Traumwetter», grummelte sie und legte eine Hand an die Fensterscheibe.
«Ja. Fast wie in der Karibik.»
«Warst du schon mal da?», fragte Nita nach einem kurzen Lächeln.
«Wo? In der Karibik?»
Nita nickte.
«Nein, noch nie.»
«Ich auch nicht. Lass uns hinfliegen!»
«In die Karibik?»
«Ja, in die Karibik.»
«Sofort?»
«Ja, sofort.»
«Okay. Magst du zuerst noch deinen Kaffee trinken?»
«Ist gut.»
Sie flogen nicht in die Karibik. Louis hatte auch gar kein großes Verlangen danach, es widerstrebte ihm, nur schon die Wohnung zu verlassen. Die Anwesenheit von Nita schien den Wänden ihre Kargheit zu nehmen, das Licht wirkte weicher und freundlicher, selbst der Kaffee duftete anders, intensiver. Nachdem sie geduscht hatte, zog Nita Shorts und ein frisches T-Shirt von Louis an.
«Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber das sind sehr schöne Shorts und ein sehr schönes T-Shirt.» Er nahm in Kauf, dass es ziemlich plump klang. Zumindest entsprach es der Wahrheit. Nita grinste und nannte ihn einen Charmeur.
Den restlichen Tag saßen Nita und Louis auf seiner Couch, tranken Kaffee, rauchten selbstgedrehte Zigaretten, hörten Musik und redeten. Vor allem redete Nita, denn Louis war wie so oft davon überzeugt, dass es seinen Worten an Substanz und Wichtigkeit mangelte. Zudem fand er es bezaubernd, Nitas Worten zu lauschen.
Sie sprach über den Abend davor, über eine Geburtstagsparty, die aus dem Ruder gelaufen war. Sie hatte zu viel getrunken, wie die meisten anderen Gäste. Ein Mann, mit dem sie sich zu Beginn angeregt hatte unterhalten können, war plötzlich zudringlich geworden, hatte sie in eine Ecke gedrückt. Nita hatte zunächst Nein gesagt, dann zu schreien begonnen, zumindest glaubte sie, sich an diese Reaktionen zu erinnern. Der Mann ließ von ihr ab und verließ offenbar hastig die Party. Sie blieb noch einige Minuten, fühlte sich dabei aber höchst unwohl. Irgendwann schlich sie aus dem Haus, ohne sich von ihren Freunden zu verabschieden. Sie ging so schnell wie möglich der Straße entlang, hatte Angst, dass der Mann irgendwo auf sie wartete. Als sie das Fahrrad sah, das neben einem Hauseingang stand und dessen Radschloss nicht verriegelt war, stieg sie einfach auf und fuhr los. An den Sturz konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, nur an den Moment, als sich Louis neben sie setzte.
«Habe ich mich schon bedankt?»
«Musst du nicht», gab Louis leise zurück.
«Aber ich will», erklärte Nita. Sie legte eine Hand an seinen Hinterkopf und küsste ihn auf die Wange.
«Danke.»
Louis blickte sie an, versuchte in ihren braunen Augen einen Hinweis zu erkennen, was dieser Kuss zu bedeuten hatte. Doch Nita lächelte lediglich undefinierbar und drehte sich eine weitere Zigarette.
Sie sahen sich ziemlich häufig in den folgenden Wochen. Sie gingen zusammen einkaufen, tranken Cappuccino in einem alten Kaffeehaus, schlenderten durch den Park, während sich an den Zweigen die ersten Knospen öffneten. Louis wurde allmählich geübt darin, über sich selbst zu reden, seine Vergangenheit in Worte zu fassen, obschon diese Worte ihm noch immer seltsam unbeholfen aus dem Mund rannen. Nita sah es ihm offenbar nach, sie hörte aufmerksam zu, löste bisweilen ein entstandenes Schweigen durch eine Bemerkung oder ein Nachfragen auf, und immer wieder berührte sie Louis, zwar nur ganz unverfänglich, an der Schulter oder am Rücken, doch für ihn waren diese Berührungen jedes Mal ein kleines Beben in seinen inneren Landschaften, die Welt erzitterte.
Eines Abends saßen sie in einer Kneipe, einem linksalternativen Szenetreff. An der Wand hingen Poster von Friedensdemonstrationen und Kunstausstellungen, Boykottaufrufe und Konzerthinweise. Vor 25 Jahren Tschernobyl, jetzt Fukushima. Und dann?, fragte ein Plakat. Jemand hatte Zwei Bier darunter geschrieben.
Sie tranken Rotwein und kritzelten kryptische Botschaften auf Notizzettel, die Nita dem Kellner abgeschwatzt hatte.
Louis: Ich mag Katzen lieber als Hunde, aber eigentlich habe ich gar keinen Hunger.
Nita: Als meine Katze starb, lag ich die ganze Nacht neben ihr.
Louis: Als ich die ganze Nacht neben dir lag, entstand in meinem Innern ein neuer Raum.
Nita: Im Innern wohnt die Erinnerung.
Louis: Meine Erinnerung ist hin und wieder eine Lügnerin.
Nita: Meine Erinnerung hat bisweilen Schluckauf.
Louis: Wenn ich als Kind Schluckauf hatte, sagten meine Eltern, dass dies daran liege, dass mein Körper wachse.
Nita: Dass mein Körper wächst, bereitete mir in meiner Kindheit Angst.
Louis: Als ich bemerkte, dass die Kindheit gar nicht so schlimm ist, war sie bereits zu Ende.
Nita: Die Kindheit nimmt meistens ein böses Ende.
Louis: Wenn man die Monster unter dem Bett regelmäßig füttert, sind sie gar nicht so böse.
Nita: Die Welt ist böse.
Louis: Von mir aus dürfte die Welt jetzt untergehen, ich fühle mich grad sehr wohl.
Nita: Ich fühle mich ebenfalls wohl.
Louis: Woran das wohl liegt?
Nita: Am Wein? Oder an uns?
Louis: Oder an beidem?
Nita: Wahrscheinlich.
Louis: Bedeutet das Wort wahrscheinlich, dass etwas nur wahr scheint, es aber gar nicht ist?
Nita: Wahrscheinlich.
Louis: Wenn ich schreibe, dass ich mich wahrscheinlich in dich verliebt habe, dann ist das wahr. Ganz ohne Schein.
Nita hielt den Kugelschreiber in der Hand, die Spitze schwebte wenige Millimeter über dem Papier. Sie blickte Louis in die Augen, schob ihren Kopf ein wenig nach vorn. Dann schüttelte sie den Kopf.
«Ich kann das nicht. Ich will das nicht», flüsterte sie. «Du bist mein Freund. Ich liebe dich als Freund. Und ich will dich als Freund nicht verlieren. Verstehst du? Mir ist das wichtig. Unsere Freundschaft. Ich will sie nicht aufs Spiel setzen… Ich will… Ich will keine Beziehung. Aber ich will unsere Freundschaft. Weißt du, was ich sagen will?»
Louis nickte. Dann leerte er sein halbvolles Weinglas in einem großen Schluck und versuchte, Nita anzulächeln. Er spürte, dass es ihm nicht wirklich gelang. Er bestellte ein weiteres Glas Wein, obwohl er wusste, dass es ihm nicht guttun würde.
Er begleitete Nita noch zu ihrer Wohnung, sie umarmten sich zum Abschied, wie immer, wie üblich. Die Umarmung fühlte sich aber nicht an wie immer, in jeder Muskelkontraktion schien eine unbekannte Vorsicht und Reserviertheit zu keimen. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, ging Louis dem Bürgersteig entlang und zwang sich dazu, sich nicht nach Nita umzudrehen. An jedem anderen Tag hätte er zurückgeschaut, hätte sich danach gesehnt, dass sie ihm ebenfalls nachschauen würde, und in den meisten Fällen hätte sich diese Sehnsucht erfüllt, sie hätte ihm zugewunken, er hätte ihr zugewinkt, und dann wäre er noch ein wenig leichter geworden als zuvor, wäre beinahe über den Asphalt geschwebt, hätte am liebsten getanzt wie Fred Astaire. An jenem Abend jedoch blieben seine Füße schwer, er quälte sich Meter um Meter vorwärts und starrte stets auf den Boden vor ihm. Erst als er um eine Häuserecke biegen musste, blickte er aus den Augenwinkeln zu ihr hin. Doch er ging zu schnell, zu hastig, zu mechanisch; er konnte nicht erkennen, ob sie noch vor dem Haus stand oder bereits hineingegangen war.
***
Louis weiß nicht, wann er Nita zum letzten Mal gesehen hat. Es ist Monate her, vielleicht ein Jahr, vielleicht sogar länger. Nach jenem Abend wurden ihre Begegnungen seltener, weniger intensiv, die Euphorie, die sie zuvor ungebremst durch die Zeit geschoben hatte, sie verblasste immer mehr. Ob Nita oder er selbst diese Entwicklung bewusst vorantrieb, vermag Louis nicht zu sagen. Womöglich war das Verwelken unvermeidbar. Louis fragt sich, ob die Dinge anders verlaufen wären, wenn er an jenem Abend nicht auf den Zettel geschrieben hätte, dass er sich wahrscheinlich in Nita verliebt hatte. Zwar war es die Wahrheit, ohne Zweifel, doch was nützt die Wahrheit, wenn sie lediglich dekonstruiert, was so viel Wert hat?
Er hat sich die DVD von In einer besseren Welt gekauft, hat sich den Film nochmals angesehen, alleine auf der Couch, hat nochmals geweint, häufiger und weniger still und heimlich als damals im Kino. Natürlich weint es sich zu Hause freier als in einem öffentlichen Raum, umgeben von Menschen, doch es ist nicht nur das Umfeld, das sich verändert hat. Er weint anders als früher, die Tränen fließen schneller, ungehinderter. Den Grund dafür sieht er in Nita, für so viele Dinge sieht er den Grund in Nita. Zunächst hatte er gedacht, dass es die verunmöglichte Liebe war, die ihn betrübte, dieses Verliebtsein, das sich im Nichts verlor. Doch allmählich wird ihm bewusst, dass er nicht beweint, was er nicht haben konnte, sondern betrauert, was er verloren hat. Wenn er sich an Nita erinnert, dann nicht an Momente, die er sich vorgestellt oder ersehnt hatte, sondern an jene Augenblicke, die er tatsächlich mit ihr hatte teilen dürfen. Er sieht sie im Park, im Kaffeehaus, auf seiner Couch, in seiner Küche. Wenn er sie dort sieht, gemeinsam mit ihm, dann vermisst er sie noch immer. Und hat den Eindruck, damals in einer anderen Welt gelebt zu haben, in einer besseren Welt.
Von mir aus dürfte die Welt jetzt untergehen, ich fühle mich grad sehr wohl. Diesen Zettel hat Louis behalten, alle anderen auch. Die Welt ist nicht untergegangen. Und mittlerweile hat er sich damit abgefunden. Wahrscheinlich.