Manchmal sitzt Maria fünf Minuten, zehn Minuten vor dem Telefon und starrt es an. Es ist ein altes Telefon, zwar mit Tasten und nicht mit Wählscheibe, aber dennoch beinahe eine Antiquität. Sie erinnert sich an jene Zeit, in welcher diese Telefone hochmodern waren. Sie kündigten die Zukunft an, in der alles viel einfacher sein sollte, automatisiert. In Zukunft würde man mit Jetpacks fliegen, wie damals vor dreißig Jahren bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles. In Zukunft würde man alle Hausarbeiten von Robotern durchführen lassen. In Zukunft würde man Urlaub im Weltraum machen. In Zukunft würde alles ein wenig leichter fallen, würde auf weniger Widerstand treffen, weniger Mühe bereiten.
Heute lebt Maria in dieser Zukunft und findet sich kaum zurecht. Die Zukunft von damals ist zu einer Gegenwart geworden, die ihr zu laut ist, zu hektisch. Zu viele Lichter blinken, zu viele Geräte tun Dinge, die sie nicht begreift. Hugo, ihr Mann, hat wieder einmal einen neuen Computer gekauft, doch sie wagt noch immer nicht, ihn zu bedienen. Sie verstehe nichts von diesen Dingen, sagt sie jeweils entrüstet, wenn Hugo sie überreden will, das Internet kennenzulernen oder eine E-Mail zu schreiben. Manchmal wird sie dann wütend und keift ihn an, obwohl sie zu wissen glaubt, dass er es doch nur gut meint. Meistens tut es ihr danach leid, doch sie entschuldigt sich nicht bei ihm.
Das Telefon, es ist beigefarben mit schwarzen Tasten, auch die Innenseite des Hörers ist schwarz. Maria hebt ihn hoch, hört das Freizeichen. Nach einer gewissen Zeit verändert sich der Ton, wird von regelmäßigen Pausen unterbrochen. Dann hört er gänzlich auf. Sie legt den Hörer wieder auf die Gabel, wartet eine weitere Minute, nimmt ihn wieder hoch. Dann wählt sie die Nummer.
«Ja?», tönt es ein wenig ungehalten aus dem Hörer. Maria hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass ihre Tochter nie ihren Namen sagt, wenn sie das Telefon abnimmt.
«Anita?»
«Ja, Mama. Wer denn sonst? Und bitte nenn mich nicht Anita.»
«Aber das ist dein Name!»
«Du und Papa seid die einzigen Menschen, die mich so nennen.»
«Wir werden dich auch weiterhin Anita nennen. Diesen Namen haben wir dir gegeben.»
«Ich weiß, Mama, ich weiß.»
«Wie geht es dir?»
«Gut.»
«Wirklich?»
«Ja.»
«Was gibt es Neues?»
«Nicht viel. Nicht wirklich.»
«Also doch etwas Neues?»
«Nein. Ich habe eine neue Frisur. Kürzer.»
«Aha. Und sonst?»
«Alles okay.»
«Wie läuft‘s im Büro?»
«Wie immer. Langweilig.»
«Hast du viel zu tun?»
«Nein. Darum ist es ja langweilig.»
«Dann such dir doch eine andere Stelle.»
«Ich will keine andere Stelle.»
«Willst du denn für immer dort bleiben?»
«Nein», stöhnt Anita. Die Stimme klingt müde.
«Na also, worauf wartest du denn?»
«Ich weiß nicht. Ich weiß ja noch gar nicht, was ich eigentlich will.»
«Du solltest es aber allmählich wissen, oder? Du bist zweiunddreißig.»
«Ich weiß, wie alt ich bin, Mama.»
Da sind Geräusche im Hörer, sie glaubt, eine Stimme zu hören, leiser als jene von Anita. Eine männliche Stimme. Anita murmelt eine Entschuldigung in den Hörer und sagt, dass sie in ein paar Minuten wieder zurückrufe. Nach einem Knacken wird es still. Maria lässt den Hörer langsam sinken und legt ihn zurück auf die Gabel.
Erneut starrt sie auf das beigefarbene Telefon, auf die schwarzen Tasten. Sie fragt sich, wer eigentlich einst entschieden hat, wie die Zahlen angeordnet sind. Zunächst die 1, die 2 und die 3 auf einer Zeile, dann die 4, die 5 und die 6 auf einer Zeile, dann die 7, die 8 und die 9, und in der untersten Reihe ein Stern, eine 0 und eine Raute. Warum nicht zwei Reihen mit jeweils fünf Ziffern oder fünf Reihen mit jeweils zwei Ziffern? Warum nicht zwei Mal vier Ziffern und unten noch die 9 und die 0, flankiert von Stern und Raute? Sie ist nicht sicher, welchen Zweck der Stern und die Raute erfüllen. Sie könnte Hugo fragen, er wüsste es wahrscheinlich. Doch sie fragt ihn schon viel zu viele Dinge, die sie nicht weiß. Er bemüht sich, ihr ernsthaft zu antworten und seine Stimme ganz normal klingen zu lassen. Maria ist dankbar dafür, dass er sich nicht anmerken lässt, dass er sie allzu häufig für dumm hält.
Sie blickt sich im Zimmer um. An der Wand hängt ein Bild von Anita, das sie auf dem Siegerpodest eines Leichtathletikturniers zeigt. Sie war damals 12 Jahre alt, gewann aber in der Kategorie der Mädchen bis 15 Jahre. Jemand sagte, dass Anita beste Voraussetzungen hätte, um eine hervorragende Athletin zu werden, sie sei sowohl sprintschnell als auch ausdauernd. Sie war damals so stolz auf ihre Tochter. Das war sie immer, ist es sogar noch heute, aber an jenem Tag schien es ihr, als würde sie selbst auf diesem Podest stehen. Maria genoss die Blicke der anderen Eltern, vor allem der Mütter, und beim Moment, als Anita die Goldmedaille umgehängt wurde, füllten sich ihre Augenwinkel.
Anita wurde keine hervorragende Athletin. Das war nicht schlimm. Doch irgendwie wurde Anita auch sonst nichts. Sie blieb einfach Anita, änderte nur den Namen, nannte sich Nita, warum auch immer. Sie irrte durch ihr Dasein, taumelte hierhin und dorthin, machte ihre Fehler und lernte im besten Fall zur Hälfte aus ihnen. Falls sie ein Ziel im Leben hatte, konnte sie es hervorragend vor ihrer Mutter verbergen. Und wahrscheinlich auch vor allen anderen Menschen in ihrem Umfeld.
Neben dem Foto von Anita auf dem Siegerpodest hängt ein weiteres Bild von ihr, zusammen mit Martin, ihrem Bruder. Er hat seine Ziele im Leben erreicht, denkt Maria. Er führt eine eigene kleine Firma für Werbegeschenke, ist erfolgreich, hat eine Frau und zwei Kinder, sogar einen Golden Retriever. Früher, als die beiden noch Kinder waren, dachte sie immer, dass aus Martin nichts werden würde. Er war faul, schrieb in der Schule schlechte Noten, hatte nur wenige Freunde. Bisweilen hätte sie ihn gern geschüttelt, hätte ihm ins Gesicht geschrien, dass er endlich aufwachen und mit dem Leben anfangen solle. Doch sie tat es nicht. Und er schaffte es trotzdem. Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, begann er zu arbeiten und bildete sich an der Abendschule weiter. Er schien hungrig zu sein, hungrig nach Wissen, hungrig nach Weiterentwicklung, und mit jedem Jahr, mit jedem Monat, der verstrich, schien er sich neue Teile der Welt zu erobern. Sein Leben wuchs und gedieh, wie ein Garten, der zunehmend üppiger und reichhaltiger wurde. Der Garten von Anita jedoch, er verkümmerte. Wenn man ihn betrat, wusste man noch immer um die Möglichkeiten, die unter jedem Strauch verborgen lagen. Anitas Garten hätte großartig werden können, triumphal. Doch er blieb karg und trist, ganze Felder lagen brach.
Als eine halbe Stunde verstrichen ist und Anita noch immer nicht zurückgerufen hat, wählt Maria erneut ihre Nummer. Erst nach einigen Sekunden wird ihr bewusst, dass sie das Besetztzeichen hört. Sie legt den Hörer auf die Gabel, ein weiteres Mal. Sie hat den Eindruck, im Moment nichts anderes zu tun als diesen Hörer auf die Gabel zu legen, gerade so, als würde die Zeit in einer Schlaufe verlaufen, sich stetig wiederholen. Immer wieder legt sie den Hörer auf die Gabel, immer wieder mit dem Gefühl, dass ihre Tochter andere Dinge zu tun hat, als mit ihr zu reden, bessere Dinge, sinnvollere Dinge. Eigentlich sollte ihr mit der Zeit die Geduld abhanden kommen, die Unermüdlichkeit entgleiten; eigentlich sollte sie den Hörer allmählich energischer auf die Gabel legen, dann heftig, dann mit einem Knall. Doch sie tut es immer mit der gleichen Zurückhaltung. Wenn die Zeit im Kreis läuft, bleibt man wohl auch selbst stets am gleichen Ort, denkt sie. Fünf Minuten später ruft sie erneut an, dieses Mal mit Erfolg.
«Ja?», grummelt ihre Tochter.
«Endlich!», ruft Maria aus.
«Hallo Mama.»
«Warum hast du nicht zurückgerufen?»
«Ich hatte zu tun.»
«Du hast gesagt, du rufst gleich zurück.»
«Ich weiß, was ich gesagt habe.»
«Aber du hast es nicht getan. Also hab ich versucht, dich anzurufen. Doch dann war besetzt.»
«Ich habe Pizza bestellt.»
«Um diese Zeit?»
«Ja, um diese Zeit. Warum nicht? Ich bin hungrig.»
«Du könntest dir ja etwas kochen. Oder dein Freund könnte dir etwas kochen.»
«Welcher Freund, Mama?»
«Naja, der Mann, der bei dir ist. Ich habe ihn gehört, vorhin.»
«Er ist nicht mein Freund. Und er ist bereits gegangen.»
«Wie heißt er denn?»
«Das spielt doch keine Rolle. Er spielt keine Rolle. Und er wird nie eine Rolle spielen.»
«Ich wünschte mir, in deinem Leben würde einmal jemand eine Rolle spielen. Vielleicht sogar eine Hauptrolle.»
«Das ist schön, dass du mir das wünscht, Mama. Aber im Moment ist es nicht so.»
«Du bist zweiunddreißig.»
«Ich weiß noch immer, wie alt ich bin, Mama.»
«Ja, ich weiß», gibt Maria mit matter Stimme zurück. «Ich weiß, dass du es weißt. Ich mache mir lediglich Sorgen um dich, das ist alles.»
«Okay, Mama. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin ein großes Mädchen.»
Einige Minuten später kommt Hugo in den Raum. Er blickt sie an, ohne ein Wort zu sagen. Maria lässt den Hörer sinken, legt ihn auf die Gabel, zum letzten Mal an diesem Tag. Die Zeit läuft weiter.
«Anita lässt dich grüßen», sagt sie. Hugo bedankt sich und verlässt den Raum wieder.