PROLOG: Mahatma Gandhi, der Schrei, Jack Nicholson und der Eiffelturm. (August 2016)

Zuerst ist da Mahatma Gandhi. Ein Bild von ihm, in einem silberfarbenen Rahmen, hinter Glas oder Plexiglas. Unter dem hageren Mann mit seiner ikonischen Brille steht ein Zitat in englischer Sprache. Live as if you were to die tomorrow. Learn as if you were to live forever. Lebe, als würdest du morgen sterben. Lerne, als ob du ewig leben solltest.

Neben Mahatma Gandhi hängt Der Schrei von Edvard Munch, aber nicht in der bekannten Pastellfassung, sondern als Schwarz-Weiß-Lithografie. Darunter in krakeliger Schrift: Ich fühlte das große Geschrei durch die Natur. Man hört es, das Geschrei, obwohl es nicht klingt.

Gandhi und der Schrei sind über einer Kommode angebracht. Es ist ein hellbraunes Möbel mit abgerundeten Kanten. Von den drei breiten Schubladen ist die mittlere leicht geöffnet. Nur ein kleines Stück weit ragt sie über die beiden anderen hinaus, doch es genügt, um die Harmonie zu stören, das Ebenmaß zunichte zu machen. Wie ein Fenstergriff, der nicht ganz in der geschlossenen Stellung ist. Oder eine Zaunlatte, die leicht absteht. Oder eine alte Häuserfassade, bei welcher eine Schindel schief hängt. Störfaktoren.

Der Fußboden besteht aus hellem Parkett, beinahe frei von Mustern oder Maserungen. Ein kleiner Lastwagen aus Holz steht in einer Ecke, ganz offensichtlich nur dekorativ und keinesfalls zum Gebrauch gedacht, doch er ist der einzige Gegenstand, der entfernt an Kinder denken lässt. Alles andere im Raum ist erwachsen, ist ernsthaft und seltsam banal. Eine Stehlampe steht humorlos in einer Ecke, ein grauer Ohrensessel lässt an einen alten Psychologen mit Pfeife im Mundwinkel denken. Eine große Vase mit trockenen, vielleicht auch künstlichen Zweigen gaukelt eine fernöstliche Eleganz vor, die von den übrigen Einrichtungsgegenständen nicht fortgeführt wird. Es gibt Räume, die etwas über ihre Bewohner erzählen. Dies ist keiner dieser Räume.

Da ist ein weiteres Bild an einer anderen Wand, eine abstrakte Ungeheuerlichkeit, die an Jackson Pollock denken lässt, ihn aber beschämen würde. An einer weiteren Wand hängt ein Plakat des Filmes One Flew Over the Cuckoo’s Nest mit Jack Nicholson. Von der Decke baumelt eine schlichte Lampe mit einem weißen Stoffschirm. Durch das Fenster dringen Sonnenstrahlen, zeichnen rudimentäre Formen in den Raum.

Über einem kleinen Beistelltisch schwebt ein Ast, mit Schnüren an der Decke befestigt. An dem Ast sind wiederum Postkarten aufgehängt. Eine zeigt einen gekippten Eiffelturm, eine andere ein Bild von Edward Hopper. Auf einer weiteren Karte stehen in eleganter Handschrift einige Wörter geschrieben. Für Nita zum Geburtstag.

Diese eine Karte, sie verwandelt den gesamten Raum. Zuvor war es ein anonymer Raum, keines der Dinge, die sich darin befinden, gehörten zu einer Person oder gar zu einem Leben. Jetzt ist alles, von Gandhi über den Schrei bis zur mittleren Schublade, mit Nita verbunden. Jack Nicholson gehört zu Nita. Edward Hopper gehört zu Nita. Sogar die groben Formen, die von den Sonnenstrahlen gebildet werden, gehören zu Nita. Doch Nita ist nicht da.

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