Kapitel 9: Hugo fängt wieder mit dem Rauchen an und erzählt seiner Tochter von einem Arzttermin. (Dezember 2014)

Acht Jahre. Acht verdammte Jahre hatte er nicht geraucht. An Silvester 2006 hatte Hugo seine letzte Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt, hatte dann die Asche mitsamt Aschenbecher in den Mülleimer geworfen, die verbleibenden zweieinhalb Zigarettenpackungen ebenfalls. Dann hatte er Maria auf den Mund geküsst und ihr gesagt, dass sie soeben zum letzten Mal in den Genuss seines fauligen Raucherschlundes gekommen sei. Natürlich glaubte ihm seine Frau nicht. Noch zwei Jahre später unterstellte sie ihm, dass er heimlich rauchte. In anderen Momenten bat sie ihn, endlich wieder damit anzufangen, vor allem, wenn sie sich stritten oder wenn Hugo einen schlechten Tag hatte. Er sei unerträglich ohne seine Zigaretten, pflegte Maria in solchen Momenten jeweils zu sagen, und er fragte sich, warum ihr das Ertragen dann doch ziemlich gut zu gelingen schien.

Unmittelbar nach dem Aufhören war er tatsächlich nahezu permanent gereizt und verärgert, er hätte mit dem Aufhören liebend gerne wieder aufgehört, doch er hielt durch und war darüber doch ziemlich überrascht. Nach einigen Wochen besserte sich seine Laune allmählich, die Lust auf das Rauchen nahm ab. Irgendwann hörten die Gedanken an Zigaretten gänzlich auf. Hugo war zufrieden mit sich, und er wäre vielleicht sogar stolz auf sich gewesen, wenn er mit dem Begriff Stolz etwas hätte anfangen können. Und im vergangenen Herbst, nach beinahe acht Jahren, hatte er wieder angefangen.

Er war beim Arzt gewesen, weil er seit Tagen an starkem Husten gelitten und sich bisweilen Blut in den Auswurf gemischt hatte. Dr. Hrdlicka hatte ihn durch seine schmale, randlose Brille angesehen und ihm dann mit besorgter Miene gesagt, dass er mit diesem Moment gerechnet habe. Hugo habe schließlich über dreißig Jahre lang geraucht, zudem nicht wenig. Zwar könne er noch nichts Genaues sagen, man müsse zuerst ein weiteres Röntgenbild anfertigen, eine Lungenspiegelung und eine Computertomografie durchführen, doch der geschwollene Lymphknoten und die erste Röntgenaufnahme würden ihn nicht gerade zuversichtlich stimmen.

Als Hugo an jenem Tag vom Arzt nach Hause ging, kaufte er am Kiosk eine Packung Zigaretten und zündete sich sofort eine an. Wenn er schon an Lungenkrebs sterben sollte, dann wollte er die letzten Monate zumindest noch in vollen Zügen genießen.

Wenige Tage später rief Dr. Hrdlicka an. Seine Stimme im Hörer schien zu galoppieren, sie überschlug sich und formte hastig rudimentäre Sätze. Diese Sätze enthielten die Nachricht, dass sich beim zweiten Röntgenbild und bei der Lungenspiegelung herausgestellt hatte, dass es sich definitiv nicht um einen Tumor handelte. Hugo hatte natürlich gute Gründe, um sich über diesen Befund zu freuen, doch irgendwie gelang es ihm nicht. Zwar hatte er noch niemandem vom potenziellen Lungenkrebs erzählt, doch er selbst hatte sich bereits damit arrangiert. Er hatte sich Gedanken gemacht, was er noch tun könnte, bevor seine Kräfte ihn verließen. Er wollte noch einmal an die französische Atlantikküste reisen, wollte endlich den Eiffelturm besteigen, wollte sich bei einer Jugendfreundin dafür entschuldigen, dass er damals ein Arschloch gewesen war. Und nun machten Dr. Hrdlicka und seine freudig überbrachte Diagnose diese Aussichten zunichte.

Eigentlich hätte Hugo sofort wieder mit dem Rauchen aufhören müssen, bevor ihn Sucht und Routine wieder in ihren Klammergriffen hatten. Doch er zögerte, rauchte einen weiteren Tag, dann noch einen, und obwohl er sich nicht als Versager fühlte, tat er es dennoch nur heimlich. Als Maria ihn dann irgendwann ertappte und ausrief, dass sie ja gewusst habe, dass er wieder anfangen würde, zuckte er lediglich mit den Schultern.

Etwas Gutes hatte das Rauchen sowieso: Wenn Anita zu Besuch war, konnte er mit ihr hinaus zur Holzbank unter dem Vordach beim Garten gehen und dort gemeinsam mit ihr rauchen. Zwar kam sie nur selten vorbei, und Hugo konnte es ihr nicht verübeln. Doch wenn sie da war, standen oder saßen sie früher oder später gemeinsam unter dem Vordach. Er war sich nicht sicher, ob er diese Momente so sehr mochte, obwohl sie dabei häufig nur wenig miteinander redeten oder weil sie häufig nur wenig miteinander redeten. Die gemeinsamen Zigarettenpausen würden vielleicht sogar Weihnachten erträglich machen.

Martin ist zuerst da, mit seiner Frau und den beiden Kindern. Er trägt einen grauen Wollpullover und darunter ein rosarotes Hemd, und diese Kombination, sie ist vollkommen unpassend und sieht fürchterlich aus. Das Rosarot ist nicht schuld, vielmehr ist es die Art und Weise, wie sein fleischiges Gesicht und seine Kleidung zu einem merkwürdigen Gebilde verschmelzen, das Hugo erschaudern lässt. Er wünscht sich, dass Martin seinen Kleidungsstil ironisch meint, doch er weiß es leider besser. Natürlich ist er stolz auf seinen Sohn, freut sich über dessen Erfolg im Beruf, über die offenbar zur allseitigen Zufriedenheit gegründete Familie, freut sich sogar über den BMW, den Martin fährt. Aber hin und wieder muss sich Hugo bemühen, einem solchen Satz kein Aber folgen zu lassen.

Einmal sagte er zu Maria, dass er Martin wohl nicht sonderlich würde leiden können, wenn er nicht sein Sohn wäre. Sie wurde wütend und brüllte, dass nur ein fürchterlicher Mensch und ein fürchterlicher Vater so etwas sagen würde; dann begann sie zu weinen, und Hugo wusste nicht genau, ob er sie trösten oder eine Zigarette rauchen sollte. Er ging dann zur Holzbank unter dem Vordach und hätte sich gewünscht, Anita dort anzutreffen.

Sie war und ist anders als ihr Bruder, vollkommen anders. Während Martin sich bemühte, allen Hürden, Widrigkeiten und Schlaglöchern des Lebens aus dem Weg zu gehen, lief Anita stets direkt auf sie zu und machte keine Anstalten, ihnen auszuweichen. Entsprechend häufig fiel sie hin, schlug sich die Knie auf und holte sich Wunden, die bisweilen als tiefe Narben nachwirkten. Zumindest nimmt dies Hugo an, denn wenn es darum geht, Gefühle in Sätze zu kleiden, scheint seine Tochter ihm heftiger nachzueifern, als ihm lieb ist.

«Wie läuft es bei der Arbeit?», fragt Hugo seinen Sohn, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubt.

«Läuft gut. Wie immer. Wir können uns nicht beklagen», gibt Martin zurück und bedankt sich mit einem Nicken für das Bier, das Hugo ihm reicht. In der Folge beklagt er sich trotzdem, spricht über Zulieferer, die ihre Termine nicht einhalten können, über die Zahlungsmoral der Kunden, die stetig schlechter wird. Hugo versucht, an den richtigen Stellen zu nicken, er murmelt einige Worte der Zustimmung und zuckt mit den Schultern. In Momenten wie diesen fragt er sich manchmal, ob er seinem Sohn Unrecht tut. Ob es ihm zusteht, Martin schweigend anzublicken und sich zu wünschen, er wäre anders. Er hört ihm noch eine Weile zu, irgendwann tut er nur noch so, als ob er zuhören würde. Er wartet darauf, dass Martin innehält und einen Schluck aus der Bierflasche nimmt. Dann entschuldigt sich Hugo murmelnd, geht hinaus zum Vordach und wartet auf Anita.

«Deine Begeisterung für Weihnachten steht dir deutlich ins Gesicht geschrieben», sagt sie grinsend, als sie zu Hugo hintritt.

«Jaja, ich könnte vor Freude explodieren, wie eine Tischbombe», grummelt er. Sie umarmen sich, dann zünden sie sich beide eine Zigarette an, als ob sie ein Zeichen erhalten hätten.

«Wie geht‘s dir, Papa?»

«Eigentlich ganz gut», gibt er zurück.

«Das Eigentlich hält sich hartnäckig, nicht wahr?»

«Das tut es wohl.»

Sie setzen sich nebeneinander auf die Holzbank und blasen den Rauch in die kühle Dezemberluft. Ein weiteres Mal ist der Schnee ausgeblieben, und während Hugo schon Weihnachten an sich nicht viel abgewinnen kann, sind ihm die Festtage noch mehr zuwider, wenn sie grün und frei von Schneeflocken bleiben.

Hugo sieht seine Tochter von der Seite an, und als sich ihre Blicke treffen, lächelt er ein wenig unbeholfen. Er blickt auf die Zigarette in seiner Hand und denkt an den Lungenkrebs, der doch keiner war. Die Arzttermine waren im Oktober, und er hat niemandem davon erzählt, nicht einmal Maria. Ganz bestimmt nicht Maria.

«Ich war noch beim Arzt», beginnt Hugo mit ungewohnt leiser Stimme. Doch bevor er weiterreden kann, kommt Maria aus dem Haus und entzieht der Umwelt alle Energie.

«Ach, du bist ja auch schon hier, Anita!», ruft sie mit weihnachtlich schriller Stimme und versucht, ihre Tochter zu umarmen und dabei ihrer Zigarette bestmöglich auszuweichen. Während sie sich wie klapprige Skelette in den Armen liegen, blickt Anita hilfesuchend zu Hugo. Er versucht ein tröstendes Lächeln.

«Kommt rein ins Warme», japst Maria. «Es gibt Glühwein.»

«Wir kommen gleich», sagt Anita und blickt ihre Mutter so lange an, bis diese sich wieder ins Haus begibt. Dann lässt sie ihre Gesichtszüge entgleiten.

«Glühwein. Ich hasse Glühwein», knurrt sie.

«Und ich erst.» Hugo lächelt ihr zu. Sie drücken ihre Zigaretten aus und gehen hinein.

Der Abend verläuft, wie die meisten Weihnachtsabende verlaufen. Martin redet, Maria redet noch mehr. Erica, Martins Frau, wirft einige Bemerkungen ein, die aber von niemandem aufgegriffen werden. Die beiden Kinder von Martin und Erica spielen ein Videospiel. Hugo und Anita schauen derweil abwechselnd auf irgendwelche Punkte an der Wand. Nach der Vorspeise – Lachsbrote und Sekt – entschuldigen sie sich und gehen hinaus zur Holzbank unter dem Vordach.

«Was wolltest du vorhin erzählen?», will Anita wissen, nachdem sie ihre Zigaretten angezündet haben.

«Ich wollte etwas erzählen?» fragt Hugo zurück.

«Ja, etwas wegen einem Arzttermin.»

«Ach so. Nicht so wichtig.»

«Ist mir egal, ob es wichtig ist. Erzähl.»

Hugo zieht an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus und blickt ihm nach, während er sich langsam im schwachen Licht verliert. Er verspürt keinerlei Verlangen mehr, über die Termine bei Dr. Hrdlicka zu sprechen. Trotzdem tut er es. Er kann seiner Tochter kaum einen Wunsch abschlagen, auch diesen nicht, zudem fühlt sich die Situation durchaus passend an, um über den verhinderten Krebs zu reden. Als er ihr Gesicht sieht, nachdem er zu Ende erzählt hat, bereut er es.

«Ist ja alles gut. Der Tod hat mich nicht erwischt», sagt Hugo.

«Ja. Ja. Alles gut», stammelt Anita ungewohnt ungelenk. Sie streicht sich mit dem Daumen über die Innenseite ihres Handgelenks. Hugo zuckt zusammen. Dann versucht er, seinen Arm um sie zu legen.

«Verdammt noch mal, Papa… Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde», flüstert Anita und schnieft.

«Dein Leben leben. So wie du‘s jetzt schon tust», erwidert Hugo und fragt sich, ob er sich diese Aussage genügend gut überlegt hat.

«Ach, mein Leben. Manchmal verdient es diese Bezeichnung gar nicht.»

«Wie meinst du das?», fragt Hugo und fühlt sich dabei ziemlich unwohl.

«Naja, es ist so banal, mein Leben. Es führt nirgends hin.»

«Möchtest du denn, dass es irgendwo hin führt?»

«Ja, natürlich», antwortet Anita nach einem kurzen, aber vielsagenden Zögern. «Ich will… Ich will etwas vorweisen können, wenn ich dereinst sterbe. Ich muss nicht unbedingt bleibende Spuren hinterlassen, aber ich will die Gewissheit haben, dass mein Leben nicht umsonst gewesen ist.»

«Aber dein Leben ist nicht umsonst. Und du hinterlässt Spuren, jeden Tag», betont Hugo und blickt ihr direkt in die Augen, obwohl es ihm schwerfällt.

«Wo denn? Wo hinterlasse ich Spuren?»

«Überall! Hier!», krächzt Hugo und zeigt auf seine Brust.

«Ach», winkt Anita ab. «Ich würde mir wünschen, dass du einmal stolz auf mich bist.»

Hugo zuckt zusammen und legte seinen Kopf schräg.

«Warum glaubst du, dass ich nicht stolz auf dich bin», will er vorsichtig wissen.

«Bist du stolz auf mich?»

«Warum glaubst du, dass ich es nicht bin?»

«Bist du es?»

Hugo starrt Anita an, legt ihr seine Hand auf die Schulter und schüttelt sie ganz leicht. Dann steht er ruckartig auf und packt die Zigarettenpackung ein, die neben ihm auf der Holzbank gelegen hat. Natürlich ist er stolz. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht stolz auf seine Tochter ist. Und sie weiß das. Sie muss das doch wissen.

«Gehen wir wieder rein», sagt er leise. «Die anderen warten bestimmt auf uns.»

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