Sie liebte die feine Haut der Pfoten, deren rosarote Farbe sich kontrastierend vom schwarzen Fell abhob. Keine andere Stelle des Körpers schien ihr so wertvoll und bewundernswert. Natürlich liebte Anita auch den Rest der Katze. Doch die Pfotenhaut war etwas Besonderes. Wenn sie die Pfotenhaut von Marie Curie berührte, fühlte sie sich der Katze noch näher als wenn sie nur das Fell streichelte.
Der Name war eine Idee ihres Vaters. Die Katze sei ein Weibchen, hatte er gesagt. Kein normales Weibchen, sondern ein besonderes Weibchen. Und ein besonderes Weibchen verdiene den Namen einer besonderen Frau. Zum Beispiel Marie Curie. Anita mochte den Namen sofort. Später erklärte ihr Vater, wer Marie Curie war, und da mochte sie den Namen umso mehr.
Marie Curie war ein Weihnachtsgeschenk. Zwar halte er wenig davon, Tiere zu verschenken, hatte ihr Vater erklärt. Doch diese Katze sei schließlich kein normales Tier, sondern – eben – etwas Besonderes. Als sie Marie Curie geschenkt bekam, war Anita neun Jahre alt. Und sie fühlte sich ebenfalls als etwas Besonderes. Schließlich hatte ihr Vater ihr eine besondere Verantwortung übertragen. Marie Curie war nicht irgendeine Katze, war auch nicht die Katze der Familie. Sie war ihre Katze, und daraus entstand eine ganz persönliche Verpflichtung, der sie gewissenhaft nachkommen wollte.
Die Katze kam zu ihr, als die Streitereien mit Martin, ihrem Bruder, erdrückend häufig und intensiv wurden. Er war zwei Jahre älter als Anita, aber nicht unbedingt zwei Jahre klüger. Sehr viele Dinge, die er sagte, waren entweder ziemlich dumm oder ziemlich gemein, und immer wieder kam es deswegen zu heftigen Auseinandersetzungen. Ihr Bruder, der ihr stets so viel bedeutet hatte, wurde immer mehr zu einer seltsamen und unangenehmen Person. Er war launisch, ignorierte sie oder herrschte sie grundlos an. Benahm sich abweisend und arrogant, dann wieder aggressiv und aufbrausend. Marie Curie kam zur richtigen Zeit.
Anita war keines jener Mädchen, die eine Katze entweder unentwegt hochheben und überall hin tragen musste, oder – noch fürchterlicher – das Tier in lustige Verkleidungen zwang. Stattdessen lag sie bisweilen stundenlang neben Marie Curie und streichelte das Fell, den kleinen Kopf und die besagte Haut an den Pfoten. Die Katze und sie gehörten untrennbar zusammen, doch beide mussten ihre Umgebung nicht ständig darauf hinweisen. Da war ein unsichtbares Band, das sie zusammenhielt, und Anita war überzeugt, dass Marie Curie dies genauso gut wusste wie sie.
Zwei Jahre, nachdem sie die Katze geschenkt bekommen hatte, waren Anita und Martin wieder zu einem einigermaßen harmonischen Geschwisterverhältnis zurückgekehrt. Nun waren es ihre Eltern, die häufig stritten. Meistens tauschten sie lediglich gehässige Bemerkungen aus, doch diese Worte hingen wie giftige Wolken in der Luft und machten das Atmen schwer. Hin und wieder wurden die Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter aber ohne jegliche Zurückhaltung ausgetragen, einige Male zerschellte Geschirr an der Wand, unter anderem auch Anitas Lieblingstasse. Womöglich war es lediglich eine Zweckgemeinschaft, die ihren Bruder und sie wieder zusammenführte, doch sie war einfach froh, dass da zumindest jemand war, der ähnlich fühlte wie sie.
Obschon sie sich mit Martin wieder besser verstand und auch in der Schule einige gute Freundinnen und Freunde hatte, blieb Marie Curie dennoch eines der wichtigsten Lebewesen in ihrem Dasein. Die Momente mit der Katze waren von ungebrochenem Wert, gaben ihren Tagen eine Bedeutung. Noch immer lagen sie manchmal stundenlang nebeneinander, dösten im hellen Licht der Sonne, das durch die Fenster fiel. Bisweilen legte Marie Curie ihre Pfote mit der feinen Haut auf Anitas Arm, und wenn sie es nicht tat, schob Anita ihre Hand unter die Katzenpfote.
Natürlich hatte Marie Curie auch in der Nacht einen Platz neben Anita, schlief in ihrem Bett. Zwar störte sich ihre Mutter an den Katzenhaaren auf der Matratze und dem Bettlaken, doch ihr Vater schien zumindest in dieser Angelegenheit besser argumentieren zu können, jedenfalls konnte er stets verhindern, dass die Mutter es Anita verbot, die Katze in ihrem Bett schlafen zu lassen.
Als sie an jenem Abend zu Bett ging, lag Marie Curie bereits unterhalb des Kissens auf der Matratze und schien zu schlafen. Anita schob sie behutsam ein wenig zur Seite und legte sich neben sie hin. Einige Minuten lang streichelte sie das weiche Fell der Katze, dann küsste sie den kleinen Schädel von Marie Curie, drehte sich zur Seite und schlief alsbald ein.
Irgendwann erwachte Anita, vielleicht wegen eines bösen Traumes oder einer unglücklichen Bewegung ihres Körpers. Es war finster im Zimmer, also noch weit entfernt vom Morgengrauen. Eher als Reflex denn aus Absicht tastete sie nach Marie Curie und fand sie auch relativ schnell, doch etwas schien nicht zu stimmen. Schlaftrunken ließ sie ihre Hand über das Fell gleiten. Es war so weich wie immer, doch das Fleisch darunter wirkte merkwürdig hart und starr, gar nicht wie Marie Curies Körper. Anita richtete sich im Bett auf, knipste die Lampe an und blickte mit blinzelnden Augen auf die Katze.
Sie erkannte ziemlich schnell, dass die Katze tot war. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr, Endlichkeit und Sterblichkeit waren ihr durchaus vertraut. Doch sie wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Der erste Reflex ließ sie hochschnellen, um ihre Eltern zu rufen, doch dann verharrte sie und sank zurück aufs Bett. Ihre Eltern würden im besten Fall die Katze aus dem Bett reißen und wegbringen. Im schlimmsten, aber auch wahrscheinlicheren Fall würden sie den Tod des Tieres als Anlass benutzen, um sich ein weiteres Mal gegenseitig mit Vorwürfen einzudecken und ihre wütenden Tiraden auf das jeweilige Gegenüber zu ergießen. Also blieb Anita liegen. Die ganze restliche Nacht harrte sie neben dem leblosen Körper der Katze aus, streichelte deren Fell, das unverändert weich geblieben war. Bisweilen hatte sie den Eindruck, eine Bewegung im Innern des kleinen Leibes gespürt zu haben, doch ihr darauf folgendes Zusammenzucken blieb halbherzig. Marie Curie war tot, und mit jeder verstreichenden Sekunde schien die Gewissheit stärker zutage zu treten. Sie blieb dennoch liegen, hielt die Katze in ihrem Arm und flüsterte ihr vereinzelt Sätze ins Ohr, als ob diese Worte etwas zu bewirken oder zu ändern vermochten. Sie blinzelte in die Dunkelheit, konnte nur Schemen erkennen, Umrisse der Möbel in ihrem Zimmer, die künstliche Pflanze auf dem Fenstersims, daneben die alte Puppe. Die Welt wirkte provisorisch, nicht real, und in dieser Finsternis war wohl auch Marie Curies Tod zunächst nur eine Behauptung, eine Theorie. Als draußen vor dem Fenster das Licht allmählich in die Welt zurückfand, wurde Anita wütend. Die Zeit war viel zu schnell unterwegs, fand sie. Viel zu schnell.
Die Mutter riss ihr beinahe wortlos die Katze aus den Armen und schaffte sie weg. Immer wieder fragte sie ihre Eltern, wo sie Marie Curie hingebracht hatten, doch weder ihre Mutter noch ihr Vater wollten darauf eine Antwort geben. Irgendwann versuchte ihr Vater, ihr die Umstände zu erklären, sprach von Vorschriften und Krankheiten und Hygiene, doch in jenem Moment wollte Anita diese Umstände gar nicht mehr genau erfahren. Sie würden nichts ändern. Schon gar nicht zum Besseren.
Ich wüsste echt nicht, wie ich mich in so einer Situation verhalten würde – weder als Mutter noch als Tochter. – Ich hatte leider nie ein Haustier und der Hund von meinem Sohn ist zu weit weg.
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Wie man sich verhalten, weiss man wohl erst, wenn man tatsächlich in die entsprechende Situation gerät. Und bei manchen Situationen ist es wohl gut, wenn man sie nicht erleben muss… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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