Kapitel 33: Felix findet auf dem Dachboden im Haus seiner Eltern eine Kiste mit Briefen und Zetteln. (April 2017 / 2001)

Felix hat stets gewusst, dass es geschehen wird, geschehen muss. Die Eltern werden alt, und irgendwann beginnt der Zerfall. Nicht unbedingt der Zerfall der Eltern, obschon auch der wohl durchaus häufig ist. Seine Eltern sind erstaunlich gesund und vital für ihr Alter. Seine Mutter ist 72, sein Vater 75 Jahre alt. Da sind zwar graue Haare und langsamere Bewegungen, aber da ist kein Zerfall, bei beiden nicht. Die Dinge um sie herum jedoch, sie vermodern und verkommen allmählich. Die Kleidung des Vaters wirkt immer unpassender, hängt unförmig an seinem Körper. Die Mutter lässt ihre geliebte Nähmaschine verstauben. Felix erachtete diese schleichende Destruktion stets als normalen Prozess. Dass nun aber das Haus dieser Entwicklung zum Opfer fallen soll, hat ihn wohl stärker erschüttert, als er zunächst dachte.

Als sie ihm erzählten, dass sie das Haus verkaufen, um in eine Wohnung mit angeschlossenem Wohn- und Pflegeheim zu ziehen, waren es vor allem die Gedanken an das Altern und die Sterblichkeit seiner Eltern, die ihm zu schaffen machten. In den folgenden Tagen sah er aber immer mehr ein, dass mit dem Haus auch ein Teil seiner Kindheit, seines Lebens verschwinden würde. Viele Gefühle und Erinnerungen sind nicht an geografische Punkte gebunden, andere wiederum sind unmittelbar mit einem Ort verknüpft. Am Haus haften zahlreiche Gefühle, die andernorts nicht überleben könnten. Er hat das Gefühl, dass in seinem Innern etwas wegzubrechen droht. Und bisweilen gibt er seinen Eltern die Schuld daran. Obwohl er ihren Schritt nachvollziehen kann. Sie sind zu alt für dieses große Haus. Er hingegen ist zu jung und zu alleinstehend dafür. Und seine Schwester ist zu verheiratet und zu vermögend, um sich für das Haus überhaupt zu interessieren.

Felix versucht, seinen Eltern gegenüber verständnisvoll zu sein. Er muss sich dafür nicht verbiegen oder verstellen. Nur ein wenig anstrengen.

Da seien noch Sachen von ihm auf dem Dachboden, hatte seine Mutter am Telefon gesagt. Ob er sie noch durchsehen wolle, bevor alles auf dem Müll lande. Er sagte umgehend zu, obwohl er nicht wusste, ob es ihm tatsächlich um seinen Krempel ging oder lediglich um die Möglichkeit, noch einmal die staubige Luft des Dachbodens einzuatmen. Wahrscheinlich um beides.

Es sind zwei große Kartonschachteln, und in diesen Schachteln liegen unzählige Dinge, die Felix längst vergessen hatte. Ein Pokal eines Fußballturniers, ein selbstgebautes Holzboot, eine Mappe mit Zeichnungen. Auch eine kleine Kiste aus dunklem Holz ist da, und als sie Felix in die Hände bekommt, weiß er genau, was sich in ihr befindet. Er sieht Nitas Gesicht vor sich, ihre braunen Augen, ihre hellbraunen Haare, und wundert sich, wie klar und deutlich das Bild ist. Die Zeit mit Nita, sie liegt weit zurück, über fünfzehn Jahre.

Er hebt den Deckel und blickt auf die Briefe, Postkarten und Notizzettel, die von einen Gummiband zusammengehalten werden. Zunächst schließt er den Deckel wieder, legt die Kiste zur Seite, ohne sich bewusst zu sein, ob es sie behalten oder entsorgen möchte. Dann nimmt er sie ein weiteres Mal in die Hände. Als er das Gummiband abstreift, gleitet ihm das Papierbündel aus den Händen, die Karten und Zettel breiten sich auf dem Boden aus. Felix stöhnt kurz auf und starrt auf den Boden. Einige Postkarten kitzeln Erinnerungen hervor, andere wirken fremd. Da sind einzelne Buchstaben, einzelne Wörter, da ist Nitas Handschrift, die zugleich wild und kontrolliert scheint. Er überlegt, ob er die Briefe einfach einsammeln und ungelesen wieder bündeln soll. Eigentlich liegt ihm nicht viel an Sentimentalitäten, er lässt seinen Blick nur selten voller Wehmut über die Jahre und Jahrzehnte seines bisherigen Lebens gleiten. Früher war er anders, er lebte lange Zeit in der Vergangenheit, bis er erkennen musste, wie ungesund dieses Verharren im Ewiggestrigen sein kann. Er hatte sich zurück in die Gegenwart kämpfen müssen, und dieser Kampf hatte Kraft und Zeit gekostet, doch er hatte sich gelohnt. Heute ist er vorsichtig beim Umgang mit seinen Erinnerungen. Als er die einzelnen Zettel zusammensammelt, beginnt er trotzdem zu lesen, blättert sich durch die unsortierten Fragmente.

Auf einem kleinen karierten Notizpapier stehen nur einige kurze Sätze.

Ich wollte immer die Welt verändern. Jetzt will ich die Welt gemeinsam mit dir verändern. Das ist ein schönes Gefühl.

Ein Foto von Nita, ihre Lippen zu einem Kussmund geformt; auf der Rückseite eine Notiz.

Küss mich, Fremder!

Ein Brief auf cremeweißem Papier, datiert mit 15. August 2001.

Lieber Felix

Ich weiß nicht, was gestern los war. Womöglich haben wir uns einfach falsch verstanden, du mich, ich dich. Vielleicht haben wir von verschiedenen Dingen gesprochen. Du hast mir mal gesagt, dass ich mich nicht dafür entschuldigen soll, wer ich bin. Also entschuldige ich mich auch nicht dafür. Doch einige Dinge, die ich gestern gesagt habe, tun mir leid.

Nein, du bist kein Langweiler. Ich hätte mich nie in einen Langweiler verlieben können. Es ist wohl eher so, dass ich zum Beispiel sehe, was du tun könntest, es aber nicht einmal versuchst. Schon alleine die Sache mit der Gitarre; du spielst wunderbar, doch wenn dein Publikum nur aus mir besteht, verschwendest du dein Talent. Dann ist da deine Intelligenz, die du einfach brachliegen lässt. Als ich von deinem dummen Job sprach, meinte ich nicht den Job an sich. Ich meinte, dass du zu klug bist, um nur ein Maurer zu sein. Und das ’nur‘ ist dabei keineswegs so arrogant gemeint, wie es klingt.

Außerdem tut es mir leid, dass ich deine Liebe angezweifelt habe. Ich glaube dir, dass du mich liebst. Aber manchmal sehne ich mich eben nach einem deutlichen Zeichen, nach einer großen Geste, verstehst du? Du musst dir nicht meinen Namen über dein Herz tätowieren. Aber es wäre mir wichtig, wenn du das, was du für mich empfindest, auch zeigen könntest. Trotzdem hätte ich deine Liebe nicht in Frage stellen sollen.

Ich hoffe, dass wir den gestrigen Tag abhaken können. Ich wünsche mir, dass uns solche Situationen nicht schwächen, sondern stärker machen. Okay?

Ich liebe dich.

Nita

Eine Postkarte, die Vorderseite zeigt ein altes Ehepaar, das auf einem Sofa sitzt; der Mann ist offensichtlich eingeschlafen, die Frau lächelt. Auf der Rückseite nur drei Wörter.

Du und ich.

Ein Blatt Papier, zusammengefaltet wie eine Ziehharmonika. Auf jeder Fläche ist ein Satz zu lesen.

Ich weiß nicht, wie gut ich bin. Doch ich weiß, dass du mich besser machst.

Du hast mir gesagt, dass ich anders bin als alle anderen, dass ich keine normale Anita bin, sondern eher eine Nita, und vielleicht sollte ich mich einfach Nita nennen.

Ich mag mich lieber, seitdem du mich liebst.

Wenn ich malen könnte, würde ich dich malen, doch ich kann nicht malen, also male ich dich nur in meinem Kopf.

Ich glaube nicht, dass mich je ein Mann glücklicher machen könnte als du. (Eine Frau vielleicht schon, aber kein Mann.) (Das war ein Witz.)

Ich will mit dir die Welt entdecken, die Welt erobern.

You are the sunshine of my life.

Weißt du noch, wie wir damals auf dem Hügel standen und den Sonnenuntergang betrachteten?

Mag sein, dass ich den Sinn des Lebens noch nicht gefunden habe, aber suchen will ich ihn gemeinsam mit dir.

Danke, dass du da bist.

Eine unbedruckte Karte, auf der Vorderseite ein aufgemaltes Fragezeichen, auf der Rückseite ein hastig geschriebener Text.

Was willst du denn, Felix? Was sind deine Ziele, deine Pläne? Bist du denn schon zufrieden? Willst du nicht weiterkommen? Willst du nicht Neues entdecken? Bist du müde? Wovor hast du Angst? Warum willst du nichts riskieren? Bist du nicht neugierig? Möchtest du nicht noch die ganze Welt sehen? Bist du schon satt? Würdest du mitkommen, wenn ich weggehen würde? Bist du wirklich glücklich? Hast du überhaupt Antworten auf diese Fragen?

Eine Postkarte, vorne ein Bild eines Gewürzmarktes, hinten einige Sätze.

Ich habe keine Ahnung, wo das Foto auf der Vorderseite aufgenommen wurde, vielleicht in Marrakesch, aber so oder so, ich will dorthin. Ich will nach Indien, ich will nach China, nach Vietnam. Ich will nach Marokko, ich will nach Ägypten, nach Südafrika. Ich will nach Peru, ich will nach Brasilien, nach Bolivien. Ich will jedes Land dieser Erde sehen, will die Menschen dort treffen, die Gerüche einatmen. Kommst du mit?

Eine Packungsbeilage eines Medikamentes, einige Stellen mit Tipp-Ex unkenntlich gemacht und neu beschrieben.

Du bist mein Medikament gegen die Traurigkeit.

Du gibst mir Wärme, wenn mir kalt ist.

Das, was wir haben, ist die schönste Nebenwirkung des Lebens.

Seitdem ich dich kenne, habe ich seltener Kopfschmerzen.

Du machst mich heil.

Ein Brief auf hellbraunem Papier, datiert mit 30. Oktober 2001

Lieber Felix

Wenn du diesen Brief liest, werde ich dir wohl gesagt haben, dass ich keine Zukunft mehr für uns sehe. Und ziemlich sicher wird es mir nicht gelungen sein, dir einigermaßen klar zu machen, warum dies so ist. Darum versuche ich es in diesem Brief. Auch wenn es mir wohl auch mit Stift und Papier nicht vollumfänglich gelingen wird.

Müsste ich in einem Satz erklären, warum unsere Beziehung in meinen Augen nicht mehr funktionieren kann, dann würde ich schreiben, dass wir einfach zu verschieden sind. Es heißt ja, dass Gegensätze sich anziehen, und bei uns hat es zu Beginn auch funktioniert, ganz wunderbar funktioniert. Doch vielleicht lässt die Anziehungskraft mit der Zeit nach, womöglich leiert etwas aus. Keine Ahnung. Ich dachte stets, dass es nur alten langweiligen Paaren passieren kann, dass man sich auseinanderlebt. Ich habe mich wohl getäuscht.

Als wir schon mal an diesem Punkt waren und ich mich von dir trennen wollte, hast du mich gefragt, was du falsch gemacht hast. Ich habe dir bereits damals gesagt, dass es nicht ums Falschmachen gehe. Und falls du die Frage nun erneut stellst oder bereits gestellt hast, ist die Antwort keine andere. Du machst nichts falsch, hast nichts falsch gemacht. Aber ich auch nicht. Wir haben beide nichts falsch gemacht, trotzdem kam nichts Richtiges dabei heraus. Obwohl, es war eine Zeit lang das Richtige. Doch diese Zeit ist vorbei. Es fühlt sich nicht mehr richtig an, zumindest nicht für mich.

Ich bin dir von ganzem Herzen dankbar für die Liebe, die du mir gegeben hast. Ich werde sie mir bewahren, sie verdient einen speziellen Platz in meinem Innern.

Nita

Ein Schwarz-Weiß-Foto von Nita, seitliches Profil, auf der Rückseite einige Wörter

Manchmal spüre ich geradezu, wie du mich von der Seite anschaust. Vielleicht sollte es mir unangenehmen sein, doch ich freue mich darüber. Es macht mich glücklich. Du machst mich glücklich. Ich liebe dich.

Felix schaut sich die übrigen Zettel und Briefe an, lächelt bisweilen, dann fügt er alle Fragmente wieder zu einem Bündel zusammen, spannt das Gummiband darüber. Er legt das Bündel in die Kiste, schiebt die Kiste ein wenig zur Seite und studiert den übrigen Inhalt der beiden Kartonschachteln. Am Ende füllt er eine der beiden Schachteln mit den Dingen, die er behalten möchte, und die andere Schachtel mit Dingen, die ihm zu wenig bedeuten, um sie sich zu bewahren. Als alles verteilt ist, liegt nur noch die Kiste mit Nitas Briefen neben ihm auf dem Boden. Er hebt sie hoch und dreht sie in seinen Händen.

«Bist du unschlüssig?»

Felix zuckt zusammen und blickt sich um. Er hat nicht mitbekommen, wie seine Mutter den kleinen Raum auf dem Dachboden betreten hat.

«Ja, irgendwie schon. Man behält doch viel zu viel Plunder, nicht wahr?»

«Was ist denn in der Kiste?», will seine Mutter wissen.

«Nur ein paar Briefe und Karten», erwidert Felix zögerlich.

«Von wem?»

Felix rollt mit den Augen, aber nur so, dass es seine Mutter nicht sieht.

«Von Nita. Erinnerst du dich?»

«Natürlich erinnere ich mich. Sie hat dich sehr glücklich gemacht. Und dann hat sie dich sehr unglücklich gemacht.»

«Ja», gibt Felix zurück. «Das hat sie.»

«Wenn es nicht mehr weh tut, solltest du die Kiste behalten. Tut es noch weh?»

Felix blickt seine Mutter an. Ihm entgeht manchmal, wie klug sie ist, es schon immer war. Nicht unbedingt gebildet, aber lebensklug. Außerdem kennt er niemanden mit einer besseren Intuition.

«Nicht mehr weh genug, um mich deswegen schlecht zu fühlen», sagt er und lächelt sie an. Dann räumt er die Kiste in eine der beiden Schachteln und hebt sie hoch, um zu prüfen, wie schwer sie ist.

«Die Vergangenheit hat ganz schön Gewicht, nicht wahr?», fragt die Mutter grinsend.

«Ja, das hat sie», antwortet er. «Ja, das hat sie.»

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