Eine Ratte. Ausgerechnet eine Ratte. Nita hatte Ratten nie gemocht. Doch damals, vor einigen Monaten, schien ihr diese Ratte wohl die richtige Entscheidung zu sein, die einzig mögliche Entscheidung. Sie hatte eine Szene im Fernsehen gesehen, in welcher eine Ratte durch eine Wohnung und direkt hin zu einer jungen Frau lief, und diese Szene berührte sie offensichtlich an einer unbekannten Stelle im Innern, denn unmittelbar darauf entstand in ihr die Absicht, sich selbst eine Ratte anzuschaffen. Solche Ideen und Intentionen waren ihr keineswegs fremd, Nita war häufig damit beschäftigt, in ihrem Kopf mit Möglichkeiten zu hantieren. Einmal war es eine Tätowierung, dann wieder ein Wohnungswechsel, bisweilen auch nur ein neuer Haarschnitt. Häufig verblassten solche Vorhaben alsbald wieder, versickerten ohne Rückstände. Einige Gedankengänge jedoch blieben latent im Graubereich ihres Bewusstseins. Sie wollte in ein Entwicklungsland reisen, um dort Hilfe zu leisten, oder in einem indischen Sterbehaus arbeiten, wollte irgendetwas tun, das ihr sinnvoll erschien, etwas Altruistisches. Sie wollte eine wahrhaftige Beziehung führen, wollte die Liebe leben und ausleben, sehnte sich nach einem Mittelpunkt im Leben. Sie wollte ein Leben führen, das keine Leerstellen aufwies, wollte das Leben als Verb begreifen und nicht als Worthülse.
Viele dieser großen und kleinen Pläne liefen ins Leere, blieben eine Umsetzung schuldig. Die Ratte jedoch, die Ratte wurde zur Tatsache. Nita ging in ein kleines Zoogeschäft in der Stadt und kaufte sich eine weiße Ratte mit roten Augen. Sie besorgte einen großen Käfig, zimmerte ein kleines Haus aus Holz, hängte sogar kleine Bilder an die Wände des Käfigs. Auf den Bildern waren vornehmlich andere Ratten zu sehen, ein Foto zeigte den Eiffelturm, ein anderes Bild den Kopf eines Pinguins. Sie tat alles, um der Ratte ein Zuhause zu bieten; sie wollte keine Haustierbesitzerin sein, die jeglichen Aufwand scheute. Ihr war wichtig, dass die Tatsache, dass sie ihre Wohnung nun mit einer Ratte teilte, einen bedeutenden Einfluss auf ihr Leben hatte. Die Ratte sollte eine Bereicherung sein. Und sie selbst wollte für die Ratte eine Bereicherung sein.
Zunächst gab sie der Ratte einen Namen. Als sie vom Tode Peter Ustinovs erfuhr, den sie sehr schätzte, war ihre Entscheidung klar. Fortan trug die Ratte den Namen Ustinov.
Ustinov war eine äußerst neugierige Ratte, schnupperte mit ihrer Nase in jeder Ecke, knabberte an Möbelstücken und Fußbodenleisten. Nita war zu Beginn noch äußerst nachsichtig, ließ die Ratte gewähren und schüttelte lediglich mahnend den Zeigefinger. Nach einigen Tagen jedoch begann sie mit erzieherischen Maßnahmen. Wenn Ustinov sich an einem Stuhlbein zu schaffen machte, hob sie ihn rasch hoch und herrschte ihn an, dass sie sein Verhalten nicht billigte. Ustinov revanchierte sich und versuchte, sie in die Hand zu beißen.
In den ersten Wochen spürte Nita, wie Ustinov ihr Leben bereicherte. Sie freute sich, ihn zu sehen, wenn sie nach Hause kam, sie brachte ihm Löwenzahnblätter mit und nahm ihn zu sich auf die Couch, obwohl sie wusste, dass er ihr Bedürfnis nach Nähe nach wenigen Sekunden wieder verschmähen und im Wohnzimmer umherlaufen würde. Sie mochte dieses neue Leben in ihrer Wohnung, sie schätzte die Anwesenheit von Ustinov, seine Bewegungen durchbrachen die Starre, die sich in ihre vier Wände geschlichen hatte. Bisweilen musste sie sich selbst daran erinnern, dass Ustinov nur eine Ratte war. Kein Freund. Kein Kind. Nur eine Ratte.
Nach drei oder vier Monaten ertappte sich Nita, wie sie zum ersten Mal daran dachte, wie es sich anfühlen würde, wenn Ustinov kein Teil ihres Lebens mehr wäre. Der Gedanke erschreckte sie zunächst, und sie blickte sich vorsichtig um, als würde sie befürchten, dass jemand mitbekommen hatte, was ihr durch den Kopf ging. Sie spürte, wie das schlechte Gewissen an ihr nagte, doch im Vergleich zur Ratte machte das schlechte Gewissen dabei keine Möbel kaputt.
Der Stellenwert der Ratte hatte sich schleichend verändert, Ustinov schien ihr keine Bereicherung mehr zu sein, sondern wirkte zunehmend wie eine Belastung. Als Hanna, ihre beste Freundin, ihr vorschlug, ein verlängertes Wochenende in Rom zu verbringen, musste Nita mit schwerem Herzen ablehnen, da sie niemanden fand, der auf ihre Ratte hätte aufpassen können oder wollen. Nach Rom zu reisen war einer ihrer unerfüllten Träume, sie empfand eine unerklärliche Verbundenheit zu jener Stadt, deutlich mehr als zu London oder Paris oder anderen Metropolen. Als sie Hanna mitteilte, dass sie wegen Ustinov nicht nach Rom fahren könne, fühlte sie sich seltsam dumm und albern.
Nur wegen dir, herrschte sie Ustinov an, als sie an jenem Tag nach Hause kam. Der Ratte war ihr Verhalten ziemlich egal, doch Nita musste in diesem Moment wohl endgültig einsehen, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte, die Wände und Pfeiler ihrer Welt hatten sich verschoben. Wenn Ustinov sie mit seinen roten Augen anstarrte und mit seinen Nasenhaaren zitterte, spürte Nita eine tiefe Enttäuschung in ihr aufsteigen. Die Zeit, in der ihr die Ratte eine Bereicherung war, schien weit weg, wirkte nahezu irreal. Nita verbannte den Rattenkäfig vom Wohnzimmer in die Ecke der Küche, doch auch dort nahm sie das kleine Reich von Ustinov immer mehr als Störfaktor wahr, als unerwünschtes Element im Gefüge ihres Lebens. Nita brachte der Ratte keinen Löwenzahn mehr mit, wechselte das Wasser immer seltener und reinigte den Käfig mit zunehmendem Widerwillen. Mit jedem Tag wuchs Nitas Abneigung gegenüber Ustinov, und gleichzeitig wuchs auch ihre Sehnsucht nach einem Leben ohne die weiße Ratte mit ihren dummen roten Augen.
Eines Tages bemerkte Nita, wie sich hinter dem Ohr von Ustinov eine kleine Erhebung gebildet hatte, ein kleiner Hügel, einen halben Zentimeter breit, weniger behaart als der Rest des Rattenkopfes. Ustinov schien sich daran nicht zu stören, war lebendig und aktiv wie immer, doch Nita glaubte nicht daran, dass es sich bei der kleinen Schwellung um eine Harmlosigkeit handelte. Sie versuchte, die Auffälligkeit zu untersuchen, obschon sie sich bewusst war, dass sie keine Ahnung hatte. Sie wusste nicht, an welchen Krankheiten Ratten leiden können, sie kannte sich in der Veterinärmedizin überhaupt nicht aus, und auch von Ratten und ihrer gesundheitlichen Disposition verstand sie nichts, auch wenn sie seit einigen Monaten mit einem solchen Tier zusammengelebt hatte. Trotz ihres Unwissens wuchs in ihr die Überzeugung, dass Ustinov eine ernsthafte Erkrankung erlitten hatte. Und irgendwie war sie darüber nicht so unglücklich, wie sie als aufrichtige Haustierbesitzerin eigentlich hätte sein müssen.
Sie betrachtete die Erhebung an Ustinovs Kopf mit großem Interesse, glaubte immer wieder eine Verschlimmerung des Befundes zu erkennen, doch ebenso häufig musste sie sich eingestehen, dass die Ratte nach wie vor äußerst lebendig und vital wirkte, keineswegs so, wie eine todkranke Ratte sich eigentlich hätte gebärden müssen. Unbeirrt rannte sie über den Küchenboden, knabberte an den wenigen Dinge, die ihr Nita in den Käfig legte. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass Ustinov kurz vor dem Ableben stand. Was wiederum Nita mit der Möglichkeit konfrontierte, dass die Ratte nicht in Bälde verenden würde, sondern ihr noch lange Zeit erhalten bleiben könnte. Eine Aussicht, die ihr nicht behagte, im Gegenteil. Sie musste einsehen, dass etwas geschehen musste. In Nitas Welt gab es keine Zukunft für Ustinov. Und ganz egal, was auch geschah; es würde besser sein als das, was war.
«Hallo Ustinov», flüstert Nita, als sie sich langsam dem Käfig nähert. «Es wird Zeit.»
Sie kniet sich hin, öffnet das kleine Käfigtor und wartet, bis sich die Ratte zum Ausgang bewegt. Doch Ustinov hockt träge in seiner kleinen Hütte, starrt aus der kleinen Öffnung hinaus auf Nita, die ihrerseits in die Hütte starrt und versucht, die Ratte mit gutem Zureden herauszulocken. Lange Zeit geschieht nichts, und Nita unterbricht ihre Versuche, um eine Zigarette zu rauchen. Als sie zum Käfig zurückkehrt, sitzt Ustinov noch immer in seiner Hütte. Nita versucht es nochmals mit sanften Worten, doch dann flucht sie kurz, öffnet den oberen Deckel des Käfigs und hebt die kleine Holzhütte hoch. Ustinov zuckt kurz zusammen und möchte wohl wegrennen, doch Nita ist schneller, packt zu und hebt Ustinov hoch, befördert ihn hektisch in eine kleine Kartonkiste, die sie zuvor bereitgelegt hatte, und schließt den Deckel.
Er versucht, sich zu befreien, drückt mit seinem kleinen Kopf gegen oben, doch Nita hält den Deckel geschlossen. Sie holt eine Rolle Klebeband aus der Küchenschublade und klebt die Kiste zu. Dann schneidet sie mit einer Schere einige Löcher in den Karton.
Während sich die Badewanne allmählich füllt, versucht Ustinov immer heftiger, sich zu befreien, die Kiste ruckelt auf dem Boden. Nita hört das Kratzen der kleinen Krallen am Karton, und einen Moment lang fragt sie sich, was geschehen würde, wenn die Ratte auszubrechen vermöchte. Und sie fragt sich, ob Ustinov weiß, was gerade vor sich geht. Sie legt ihre Hände an die Kanten der Kiste und starrt an einen Punkt an der Wand.
Irgendwann dreht Nita das Wasser ab. Sie hebt die Kartonkiste hoch, spürt das Gewicht der Ratte, registriert ihre Bewegungen. Sie stellt die Kiste auf den Wannenrand und wartet, bis sich Ustinov wieder ein wenig beruhigt hat.
Schließlich lässt sie die Kiste in die Wanne sinken. Als sie zum ersten Mal das Wasser berührt, zuckt Nita ein wenig zusammen und hält kurz inne. Es ist die letzte Möglichkeit, um noch aufzuhören, denkt sie. Die letzte Gelegenheit, um Ustinov zu befreien. Sie lässt den Kopf sinken, beißt auf ihre Unterlippe. Dann drückt sie die Kiste weiter nach unten, drückt sie unter Wasser. Die Zuckungen in der Kiste werden seltener und schwächer, irgendwann hören sie gänzlich auf. Nita hebt ihren Blick und starrt an die gekachelte Wand. Die Fugen verschwimmen immer mehr.
Zehn Minuten lang sitzt sie neben der Badewanne und presst die Kartonkiste unter Wasser, schaut immer wieder auf die kleine Uhr an der Wand. Schließlich ist sie überzeugt, dass Ustinov keinesfalls mehr leben kann, außerdem befürchtet sie, dass sich der Karton allmählich zersetzen könnte. Sie hebt die Kiste aus dem Wasser, lässt sie vollständig abtropfen. Dann trägt sie die Kiste zum Mülleimer in der Küche, legt sie hinein. Sie räumt den Käfig aus, stopft alles in den Müllsack und nimmt ihn anschließend aus dem Eimer, schnürt ihn hastig zu und trägt ihn hinab zum großen Müllcontainer hinter dem Haus.
Als sie in die Wohnung zurückkehrt, schließt sie die Tür hinter sich und bleibt einige Augenblicke lang im Flur stehen. Dann geht sie ins Badezimmer, stellt sich vor den Spiegel und starrt sich an, sucht nach Anzeichen, dass sich in ihrem Gesicht etwas verändert haben könnte. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie ist sich nicht sicher.