Sonntag, 21. Februar 2016
Vorgestern ist Umberto Eco gestorben. Vorgestern ist Harper Lee gestorben. Vorgestern war kein guter Tag. Gestern war noch schlimmer. Obwohl kein berühmter Literat gestorben ist. Gestern war einfach ein Samstag im Leben von Lisa Schneider. Kein normaler Samstag, oder vielleicht der erste normale Samstag seit Monaten, ich weiß es nicht genau. Es war jedenfalls der erste Samstag ohne Nita.
Ich habe schon seit Monaten nicht mehr in dieses Tagebuch geschrieben. Ich überlege, warum ich in dieser Zeit keinen Anlass sah, meine Gedanken niederzuschreiben; es war durchaus nicht so, dass es nichts zu erzählen gegeben hätte. Und im Nachhinein wäre es wohl ratsam gewesen, den Dingen ab und an ein Buchstabenkleid anzuziehen. Es hätte vielleicht einiges relativiert, hätte mehr nüchterne Rationalität und weniger emotionalen Tumult mit sich gebracht. Doch ich schrieb nicht. Und ich weiß durchaus auch, warum dies so war. Die Monate, sie waren wild, sie waren hektisch, sie waren schnell. Vor allem aber waren sie lebendig. Von der Trägheit, die mir zuvor stets an den Schuhen zu kleben schien, war plötzlich nichts mehr zu spüren. Die Zweifel waren mir unbemerkt von den Schultern gefallen, die Knoten im Bauch hatten sich gelöst, die verhärteten Muskeln waren weich geworden. Der Argwohn, der Unmut und die Ängste, die mir zuvor stets ungebremst aus der Stiftspitze zu fließen schienen, sie waren versiegt, ich wusste nicht, worüber ich hätte schreiben können. Natürlich hätte ich die wunderbaren Gefühle in Worte fassen können, diese ungeahnte Euphorie, das warme Getöse in meinem Innern. Doch darin war ich wohl so ungeübt, es war mir so fremd, dass ich es gar nicht in Betracht zog.
Am Tag, als Umberto Eco und Harper Lee starben, starb wahrscheinlich auch das, was mich vom Schreiben abgehalten hatte. Als ich Nita sagte, dass es so nicht weitergehen könne, glaubte ich, ein Pfeifen in meinen Ohren zu hören, hoch und schrill. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Aber womöglich klingt so der Tod, wenn er die Liebe ereilt.
Liebe. Ich weiß nicht, ob es Liebe war. (Was bedeutet dieser Begriff, was bedeutet Liebe eigentlich? Wie definiert man Liebe? Wie definiere ich Liebe? Und warum setze ich diese Fragen in Klammern?) Es fühlte sich jedenfalls so an, wie ich mir das Gefühl von Liebe stets vorgestellt hatte. Doch eigentlich ist es egal. Und an dieser Stelle wollte ich zunächst einen Vergleich anführen, der mir dann aber doch zu dumm und zotig erschien, um ihn hinzuschreiben. Ich notiere ihn dennoch, setze ihn in Klammern. (Die Überlegung, ob es nun Liebe war oder nicht, ist in diesem Fall so egal wie die Überlegung, ob eine Fehlgeburt nun ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre. Eben. Ein schrecklicher Vergleich.) Liebe. Keine Ahnung. Oder doch, eine Ahnung. Eine Ahnung von Liebe. Das war es zweifellos. Eine Ahnung von Liebe. Mindestens.
Vorhin stand ich minutenlang vor dem dummen Spiegel im Badezimmer und sprach der Frau vor mir das immer gleiche Mantra ins Gesicht. Es war die richtige Entscheidung. Es war die richtige Entscheidung. Es war die richtige Entscheidung. Wenn mir die Frau im Spiegel ins Gesicht gespuckt oder mich geohrfeigt hätte, ich hätte es ihr nicht verübeln können. Doch sie sprach mir einfach nach. Ohne die Worte zu hinterfragen.
Natürlich war es nicht die richtige Entscheidung. Eine derartige Entscheidung kann gar nicht richtig sein. Doch es war eine notwendige Entscheidung. Denn allzu viel länger hätte ich diesen Schwebezustand nicht ertragen. Nita sagte einst, dass sie in keinem Moment ihres Lebens so glücklich gewesen sei wie mit mir. Trotzdem konnte sie mich nie als ihre Freundin bezeichnen, oder als ihre Liebhaberin, ihre Partnerin. Ich bliebt stets undefiniert. Zu Beginn störte es mich nicht, doch mit der Zeit begann diese Unklarheit an mir zu nagen. Nitas Zögern verunsicherte mich, ihre Unverbindlichkeit ließ mich immer mehr zweifeln.
Ich erinnere mich an den ersten Abend, den wir zusammen verbrachten, damals in der Tiger-Bar und danach im Hinterzimmer. Zu Beginn war mir Nita ziemlich unsympathisch. Ihre Distanziertheit wirkte auf mich wie eine einstudierte Rolle, nichts daran schien authentisch. Zwar war mir bewusst, dass Arroganz und Schüchternheit einen Menschen auf ganz ähnliche Weise zu prägen vermochten, doch bei Nita war ich zunächst überzeugt, dass sie nicht schüchtern war. In ihrer Zurückhaltung lag die Überzeugung, sich abzuheben vom Rest, zumindest glaubte ich dies.
Erst nach einigen Stunden, als sie, ich und Alex noch zu dritt waren, wurde mir allmählich klar, dass ich mich getäuscht hatte. Sie war vor allem zutiefst verunsichert. Und je mehr diese Verunsicherung von ihr abfiel und ihrem Ich mehr Raum gestattete, desto schöner und wahrhaftiger wirkte sie. Wahrscheinlich habe ich mich an jenem Abend im Hinterzimmer bereits in sie verliebt. Und wenn nicht, dann beim nächsten Mal, als wir uns im Büro sahen. Wir trafen uns im Korridor. Sie war aus jenem Büro getreten, in dem sie arbeitete, ihr Gesicht wirkte starr und nahezu alt. Als sie mich sah, breitete sich ein ungeahntes Strahlen darauf aus. Ich war ehrlich schockiert darüber, und im ersten Moment zweifelte ich daran, dass ihr Lächeln von Ehrlichkeit gespeist wurde. Doch dann umarmte sie mich, drückte mich erstaunlich heftig an sich, und während ich ihren Körper an meinem spürte, wurde mir wohl bewusst, dass ich dieses Gefühl, das in mir keimte, nicht einfach würde abschütteln können.
Es dauerte mehrere Monate, bis wir uns erneut so nahe kamen wie im Hinterzimmer oder im Korridor vor der Bürotür. Erneut begann der Abend in der Tiger-Bar, doch während sich Stephanie, Emma, Mark und Lars schon ziemlich schnell in alkoholgeschwängerten Nonsens verabschiedet hatten und Alex gar nicht zugegen war, hatte Nita plötzlich Lust auf einen Spaziergang, obwohl draußen ein kalter Herbstwind um die Häuser wehte. Sie musste mich nicht überreden, mit ihr mitzugehen.
Während wir durch die beinahe ausgestorbenen Gassen der Stadt gingen und die Kälte in unsere Gesichter biss, wechselten wir nur wenige Worte. Irgendwann meinte Nita, dass sie den Spaziergang nur vorgeschlagen hatte, weil sie gehofft hatte, dass ich sie begleiten würde. Ich wusste keine Erwiderung auf diese Aussage. Stattdessen schubste ich sie mit meiner Schulter leicht zur Seite. Nita lächelte und taumelte. Irgendwann blieb sie stehen und deutete auf einen Brunnen. Wenn man hier eine Münze reinwirft, geht ein Wunsch in Erfüllung, sagte Nita. Ich zuckte mit den Schultern und meinte, dass dies nicht nötig sei, ich sei gerade wunschlos. Ich hatte eigentlich gedacht, dass sie diese dumme Bemerkung überhören würde, doch das tat sie nicht. Sie legte mir den Arm auf die Schulter und lächelte mich an. Das war schön. Das war sehr schön.
Nita sagte häufig, dass sie nicht lesbisch sei. Es war ihr wichtig, nicht als Lesbierin wahrgenommen zu werden. Mir war egal, wie sie sich bezeichnete, zumindest redete ich mir ein, dass es mir egal war. Erst jetzt erkenne ich allmählich, dass es sehr wohl von Bedeutung war.
Als wir uns an jenem Abend umarmten, merkte ich, dass sie nervös war. Aber ich war ebenfalls aufgeregt, vielleicht noch aufgeregter als Nita. Gedanken darüber machte ich mir jedoch nicht. Überhaupt machte ich mich damals wenig Gedanken. Die Gedanken kamen von alleine, bewegten sich wie junge Tänzerinnen auf einer Bühne, so wendig und frisch. Eine dieser Tänzerinnen machte eine unglaubliche Figur, zugleich akrobatisch und erotisch. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Hastig drehte ich meinen Kopf zur Seite, damit Nita nichts davon mitbekam.
Umberto Eco! Harper Lee! Verdammt!
Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal zweifelte. Ich bin sicher, dass ich Signale übersehen habe. Sehr viele Signale. Man könnte es vielleicht Dummheit nennen, doch es gibt zweifellos Bezeichnungen, die mehr Gefühl in sich tragen, mehr Romantik, mehr Pathos. Mir sind die Bezeichnungen schrecklich egal geworden. Vielleicht habe ich sogar Angst vor Worten, die allzu akkurat beschreiben.
Nita sagte häufig Dinge wie: Lisa, lass uns die Welt erobern. Oder: Komm, Lisa, wir drehen durch. Sie klangen wundervoll, diese Worte, und ich zwang mich häufig dazu, ihnen Glauben zu schenken, mich ihnen hinzugeben. Heute weiß ich nicht, ob es sich bei diesen Worten von Nita um Lügen oder Wunschdenken handelte. Ich weiß nicht einmal, ob es einen Unterschied macht.
Wer die Nachtigall stört habe ich wohl vor etwa zehn Jahren gelesen. Ich bin nicht sicher, ob ich von Umberto Eco überhaupt etwas gelesen habe. Vielleicht Der Name der Rose, weil es alle lasen, vielleicht aber auch gar nichts. Warum tu ich so, als wären mir ihre Tode wichtig? Auch wenn mir ihre literaturgeschichtliche Bedeutung vollkommen bewusst ist, kann ich nicht behaupten, dass sie für meine eigene Geschichte von Belang wären. Umberto Eco und Harper Lee sind mir egal. Jedenfalls waren sie mir egal. Doch vorgestern sind sie gestorben, und nun sind sie plötzlich wichtig. Gerade so, als würde ihr Wert mit ihrem Verschwinden steigen. Durch ihre endgültige Abwesenheit wurden sie aus subjektiver Sicht so präsent wie nie zuvor.
Ich frage mich, wie Nita mich sieht, seitdem ich gegangen bin.
Es war unvermeidbar. Ich bin ziemlich sicher, dass es eigentlich unvermeidbar war. Die relativierenden Wörter verraten mich, ziemlich, eigentlich, sie öffnen den Raum für Möglichkeiten. Es hätte doch. Es könnte doch. Wäre ich doch. Manchmal ist der Konjunktiv ein Arschloch.
Immer wieder frage ich mich, ob Nita nicht einfach noch ein wenig Zeit gebraucht hätte. Vielleicht nur einige Wochen, einige Begegnungen, einige Emotionen, um daran zu glauben, dass es ein Wir gab, ein Uns, eine Bindung, die mehr war als nur ein Experiment. Einige Wochen lang war ich überzeugt, die Liebe gefunden zu haben, und meine Gedanken galoppierten so weit voraus, dass ich sie häufig aus den Augen verlor. Ich hätte ihnen nachlaufen können, diesen Gedanken, doch dann hätte ich Nita zurücklassen müssen, denn sie war keineswegs im gleichen Tempo unterwegs wie ich. Sie hatte wohl nicht einmal die gleiche Richtung eingeschlagen.
Einmal fragte ich sie, ob sie sich vorstellen könne, mit einer Frau an ihrer Seite alt zu werden. Sie antwortete, dass sie sich viele Dinge vorstellen könne. Sie könne sich sogar vorstellen, mit einem Esel an ihrer Seite alt zu werden. Wenige Augenblicke später küsste sie mich auf den Mund und ließ ihre Hand auf meinem Hinterkopf ruhen. Und ich weiß heute noch nicht, ob der Esel oder der Kuss ihren wahren Gefühlen näher lag.
Manchmal denke ich, dass ich es nicht hätte beenden sollen. Dann wieder denke ich, dass ich es gar nicht erst hätte beginnen lassen dürfen. In den meisten Fällen aber weiß ich überhaupt nicht, was ich denken soll.
Schreiben tut gut, das merke ich nun. Jeder Buchstabe ist ein Schritt hin zur Klarheit, jedes Wort schärft den Blick. Ich nehme mir vor, wieder häufiger zu schreiben, mir die Zeit zu nehmen, mir die Zeit zu lassen. Doch nun möchte ich lesen. Vielleicht finde ich in meinem Bücherregal oder im Keller ja ein Buch von Umberto Eco. Oder ich lese Wer die Nachtigall stört nochmals. Womöglich lese ich auch etwas von einer Schriftstellerin, die noch lebt. Oder von einer, die schon lange tot ist. Wahrscheinlich lande ich am Ende bei Sylvia Plath. Und vielleicht gehöre ich auch genau dort hin.