Kapitel 26: Nita ist fast so betrunken wie Martin, doch fröhlich sind beide nicht. (Dezember 2009)

«Warum sitzen wir hier?», will Nita wissen.

«Ich musste mal raus», gibt Martin schulterzuckend zurück. «Und du bist heute mein Opfer.»

«Okay, damit kann ich leben. Noch ein Bier?»

«Ja. Und du? Bleibst du beim Wein.»

«Ja.»

«Bleib sitzen», sagt Martin. «Ich gehe schon.»

Sie hatten sich gerade erst gesehen, einige Tage zuvor, beim alljährlichen Treffen im Haus ihrer Eltern an Heiligabend. Martin war wie immer. Er erzählte von erfolgreichen Geschäftsabschlüssen, von unangenehmen Kunden, von den Entwicklungen an der Börse, von seinem BMW, und dabei bewegte er sich wie gewohnt auf der schmalen Linie zwischen Selbstbewusstsein und Überheblichkeit. Sie konnte ihn in solchen Situationen nicht sonderlich gut leiden, da war eine hässliche Kälte in seinem Blick. Er konnte auch anders, das wusste Nita. Er war kein Unmensch. Doch in diesen Momenten schien keine Wärme in ihm zu wohnen.

Heute wirkt er tatsächlich anders, kleiner, leiser. Als er an den Tisch zurückkommt, hat sie den Eindruck, dass er ein wenig schwankt.

«Was ist los?», fragt Nita, nachdem er sich hingesetzt hat.

«Warum meinst du?»

«Was ist los?», wiederholt sie und blickt ihn herausfordernd an.

«Alles bestens.»

«Wir können hier sitzen und uns etwas vorspielen. Oder du kannst erzählen, was dich beschäftigt.»

Martin lässt seinen Daumen über das Bierglas wandern, immer wieder über die gleiche Stelle. Dann blickt er auf und Nita in die Augen.

«Okay.»

Die zwei Jahre, die zwischen ihnen liegen, spielen längst keine Rolle mehr. Ansonsten trennt Martin und sie ein Raum, der so weit und groß ist, dass es ihnen nahezu unmöglich ist, ein Gespräch zu führen, in welchem sie einander hören und verstehen könnten, ein Gespräch, das Substanz oder Relevanz aufweist. Sie gehen meistens respektvoll miteinander um, bleiben nett, doch nur ganz selten dringen ihre Unterhaltungen unter diese Oberfläche. Nita stört sich nicht daran, sie braucht keine innige Verbundenheit zwischen ihr und Martin. Vielleicht wäre ihr zu viel Nähe sogar unangenehm. Sie erinnert sich daran, wie er ihr einst zu ihrem Geburtstag gratulierte und sie dabei ungelenk zu umarmen versuchte. Es fühlte sich fremd und falsch an, und er schien diesbezüglich ähnlich zu empfinden wie sie, denn seither blieben selbst angedeutete Umarmungen aus.

Jetzt sitzt eine Version von Martin vor ihr, die sie kaum kennt, und Nita weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Sie leert ihr Weinglas und geht zur Bar, um es nachfüllen zu lassen, bevor ihr Bruder überhaupt zu reden beginnt.

«Durstig?»

«Ja», gibt Nita zurück und nimmt einen weiteren Schluck. «Also, erzähl.»

«Na ja, es gibt nicht viel zu erzählen», beginnt Martin.

«Tu‘s trotzdem.»

«Ja, ja, ich mache ja schon.»

«Sorry.»

«Hast du manchmal den Eindruck, dass du ein Leben lebst, das nicht dein eigenes ist?», fragt Martin nach einem kurzen Moment des Schweigens.

«Hmm», erwidert Nita vorsichtig und sucht in Martins Gesicht nach einem Zeichen, ohne zu wissen, wie sie ein solches Zeichen erkennen und was sie damit anfangen sollte.

«Fühlst du dich nie am falschen Ort? In der falschen Zeit? Im falschen Körper?»

«Oh doch. Immer wieder. Seit ich denken kann. Etwas anderes kenne ich kaum.»

«Ach komm…»

«Was?»

«Das klingt furchtbar.»

«Tut es, ja.»

«Scheiße.»

«Ja. Aber jetzt geht‘s um dich. Los.»

«Ich weiß nicht.»

«Los!», ruft Nita viel zu laut und schaut sich erschrocken um. Als ein Blick eines anderen Gastes sie trifft, hebt sie beschwichtigend ihre Hände. «Los», wiederholt sie ein wenig leiser.

«Ich möchte am liebsten weg, verstehst du?»

«Weg?»

«Ja, weg», sagt Martin nickend. «Weg von allem. Weg von Erica und den Kindern, weg von der Arbeit, weg von meinen Freunden oder den Leuten, mit denen ich meine Zeit verschwende. Einfach weg.»

«Und wohin willst du?»

«Keine Ahnung. So weit bin ich noch nicht mit meinen Plänen.»

«Ich würde gern nach Afrika. Oder nach Indien, in einem Sterbehaus arbeiten. Solche Sachen.»

«Ziemlich konkret.»

«Nicht wirklich, nein. Nimmst du noch ein Bier?»

«Klar», gibt Martin zurück.

Nita lässt Martin weiterreden, doch während er davon erzählt, wie ihn sein Dasein als Ehemann, Vater und erfolgreicher Geschäftsmann aushöhlt und ermüdet, fragt sie sich, warum sie zwar nicht seine Umstände, aber wohl in gewisser Hinsicht seine Gefühle teilt, seine Frustration, sein Hadern mit der Ausweglosigkeit, in welche sich sein Leben manövriert hat. Diese plötzliche Verbundenheit, auch wenn sie nur rudimentärer und temporärer Natur ist, verunsichert sie.

«Es ist alles so festgefahren, verstehst du?» Martin sieht ihr in die Augen, sein Blick ist drängend, flehend. Sie nickt, obwohl sie nicht sicher ist, ob sie tatsächlich begreift, was er meint.

«Erica und ich haben uns nicht mehr viel zu sagen. Wir leben nebeneinander her. Ich weiß nicht, ob da früher eine gewisse Nähe war. Jetzt ist da jedenfalls keine. Wir sind uns so schrecklich egal geworden. Unser gesamtes Dasein ist eine verdammte Pflichtübung. Manchmal glaube ich, der einzige Grund, weshalb wir noch ein Paar sind, ist die Tatsache, dass wir uns beide nicht eingestehen wollen, dass wir gescheitert sind.»

«Scheitern ist scheiße.»

«Ja, ist es. Es nicht zulassen zu können, ist noch schlimmer.»

«Und jetzt?», will Nita wissen.

«Und jetzt was?»

«Was willst du tun?»

«Was soll ich denn tun? Was kann ich denn tun?»

«Du kannst alles tun, was du willst», erklärt Nita und erschrickt, als sie in ihrer eigenen Stimme den Widerhall ihrer Mutter hört.

«Quatsch. Kann ich nicht. Nicht einmal annähernd. Selbst du kannst das nicht.»

«Ich könnte schon.»

«Dann mach doch.»

«Ich kann nicht.»

«Aha.»

Nita holt eine weitere Runde Bier und Wein, sie stoßen an, trinken schweigend oder schweigen trinkend. Irgendwann treffen sich ihre Blicke. Nita bricht zuerst in Lachen aus. Dann grinst auch Martin.

«Wir sind erbärmlich», sagt er und schlägt die Hände vors Gesicht.

«Und wie», erwidert Nita und lacht ungewohnt schrill.

«Dabei hast vor allem du keinen Grund, dich zu beklagen.»

Nita hält unvermittelt inne und blickt Martin verständnislos an.

«Warum vor allem ich?»

«Na ja, dein Leben ist doch perfekt. Du bist jung, du bist hübsch, du bist ungebunden. Was willst du denn mehr?»

Sie ist sich nicht sicher, ob er wahrhaftig so denkt, sie verhöhnen will oder einfach betrunken ist.

«Mein Leben ist perfekt? Am Arsch! Mein Leben ist ein Fiasko!»

«Ach komm…», sagt Martin vorsichtig, und einen Moment lang blitzt die bekannte Mischung aus Selbstbewusstsein und Überheblichkeit in seinem Gesicht auf.

«Nein! Nein, nicht Ach komm! Erklär mir nicht, wie gut mein Leben ist!»

«Das mache ich ja gar nicht!», protestiert Martin.

«Dein Leben ist doch perfekt. Das hast du gesagt, oder? Du hast keine Ahnung von meinem Leben!»

«Tut mir leid.»

«Tut es das? Tut es das? Ich glaube nicht. Es ist dir egal!»

«Nein, ist es nicht. Ich möchte wissen, warum du glaubst, dass dein Leben ein Fiasko ist.»

«Du möchtest es wissen? Pff… Was habe ich denn? Was habe ich denn erreicht?»

«Na ja…»

«Nichts habe ich erreicht! Ich bin 27 Jahre alt! Und nichts in meinem Leben hat einen Wert!»

«Hör doch auf», beginnt Martin, aber Nita fällt ihm mit wachsender Vehemenz ins Wort.

«Nein, ich hör nicht auf! Sag mir nicht, dass ich aufhören soll!»

Also macht sie weiter. Sie bemerkt zwar, dass Martin zusammensinkt und sich vom scheinbar besorgten Zuhörer zum peinlich berührten Involvierten wandelt, doch sie lässt sich nicht davon abhalten, ihm zischend und knurrend ihre Wut an den Kopf zu werfen. Er kann nichts dafür, aber er kann auch nichts dagegen tun.

Irgendwann verstummt sie und lässt den Kopf sinken. Sie atmet ein, sie atmet aus, dann blickt sie Martin an. Er sieht erschrocken und hilflos aus, beinahe wie ein kleines Kind, obwohl sie sich nicht erinnern kann, dass er als kleines Kind so ausgesehen hat. Sie überlegt, ob sie sich entschuldigen soll, tut es aber nicht.

«Ich hole dir noch ein Bier.»

Martin zuckt mit den Schultern.

«Okay.»

Während sie an der Bar steht und die Getränke bestellt, blickt sie auf Martins Hinterkopf, auf seine Schultern, die ungewohnt schlapp herunterhängen. Da ist ein großes Muttermal an seinem Hals, und zweifellos hat sie es schon unzählige Male gesehen, doch jetzt, jetzt ist sie erstaunt, dass es da ist. Sie mag es. Das Muttermal, es verändert Martin, seine ganze Erscheinung wird plötzlich nahbarer, wärmer. Einen Moment lang ist Nita versucht, zu ihm hinzugehen und ihm davon zu erzählen. Doch als sie sich wieder zu ihm an den Tisch setzt, schiebt sie ihm lediglich wortlos sein Bier hin und lächelt ihn an. Er lächelt zurück, zuckt mit den Schultern. Dann trinken sie. Nita hat Mühe, ihren Wein zu schlucken, etwas in ihrem Hals scheint blockiert zu sein. Als es doch noch gelingt, ist sie erleichtert.

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das:
close-alt close collapse comment ellipsis expand gallery heart lock menu next pinned previous reply search share star