Kapitel 22: In einem Brief an ihre ehemalige Lehrerin bedankt sich Nita für einen Ratschlag, der vielleicht gar nicht stimmt. (März 2007 / April 1999)

Liebe Frau Kramer

«Man lebt doch nicht für die anderen Leute! Man lebt doch vor allem für sich selbst!» Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr. Aber ich erinnere mich. Erinnere mich an diese Worte, die Sie mir damals sagten. Ich höre diese Worte noch heute, von Ihrer Stimme gesprochen. Vielleicht klingt Ihre Stimme heute anders, ich weiß es nicht. Wenn Sie seither jeden Tag unverändert viele Zigaretten geraucht haben, klingt Ihre Stimme vielleicht auch gar nicht mehr. Ganz ehrlich: Das waren zu viele Zigaretten.

Eben. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr. Weder an die erwähnten Worte noch an mich. Mein Name ist Nita Kaufmann, damals noch Anita. Das A ist irgendwann weggefallen, wie so vieles irgendwann wegfällt. Sie waren ein halbes Jahr lang Aushilfslehrerin, weil Madame Lacroix doch noch einen Mann gefunden hatte, der ihr zur ersehnten Schwangerschaft verhilft. Bereits nach zwei oder drei Tagen waren Sie meine Lieblingslehrerin. Sie sind es bis heute geblieben.

Sie haben Deutsch unterrichtet. Oder nein, Sie haben Deutsch gelebt. Grammatikalische Regeln waren Ihnen egal, Syntax und Semantik schienen Ihnen häufig zu theoretisch, zu blutleer. Stattdessen lehrten Sie uns, mit Wörtern und Sätzen unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie haben uns Aufgaben gegeben. Schreibt über einen Moment, in welchem ihr Angst hattet. Schreibt über das Gefühl, einen Menschen zu vermissen. Schreibt darüber, einen Fehler zu machen. Schreibt über den letzten Tag eures Lebens. Diese Aufgaben dienten vielleicht tatsächlich dazu, unsere Deutschkenntnisse zu schulen und zu prüfen, ich weiß es nicht. Mir dienten sie vor allem dazu, mich selbst kennenzulernen. Ich glaube, Sie haben meine Geschichten damals jeweils mit guten Noten bewertet oder zumindest wohlwollend kommentiert. Viele dieser Texte sind mittlerweile verschwunden, sind diversen Umzügen und übermotivierten Aufräumaktionen zum Opfer gefallen. Einige habe ich ins Jetzt retten können. Einen davon habe ich diesem Brief als Kopie beigefügt. Die Aufgabe bestand darin, eine Geschichte über die Scham zu erfinden.

* * *

Wer über Scham schreibt, schreibt früher oder später über Nacktheit. Wenn nicht über rein körperliche Nacktheit, dann über emotionale Nacktheit, über seelische Entblößung. Julia, die Protagonistin dieser Geschichte, hat keine Probleme mit der körperlichen Nacktheit. Für sie ist das Nacktsein der ursprünglichste und natürlichste Zustand des Körpers und somit nichts, dessen man sich schämen müsste. Julia könnte sich wohl vor zwanzig fremden oder halbfremden Menschen nackt ausziehen und würde keine Scham verspüren, keine Verletzlichkeit, keinen Kleinmut. Zwar würde sie sich nicht besser fühlen als mit Kleidung, aber auch nicht anders als sonst. Sie ist nicht stolz auf ihren Körper, sieht dafür keinen Grund, aber sie mag ihn, findet es angenehm, in ihm zu wohnen. Es ist ihr Körper, es ist ihre Haut, in ihr ist sie zu Hause.

Eines Tages steht Julia vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer im Haus ihrer Eltern, in dem sie noch immer wohnt, obwohl sie längst kein Kind mehr ist. Sie trägt lediglich einen Slip, den BH hat sie bereits ausgezogen. Sie lässt ihre Hände über die Haut gleiten, denn sie mag es, wie sich ihr Körper anfühlt, mag das Gewicht ihrer Brüste, mag die Wärme des Fleisches. Manchmal fühlt sie sich in solchen Situationen wie ein Kind, neugierig und unverbraucht. Sie fragt sich, warum diese Neugier und dieses Unverbrauchte nicht auch in anderen Bereichen ihres Daseins Gültigkeit haben kann. Sie würde gern den Menschen neugierig und unverbraucht begegnen können, doch dafür ist es bereits zu spät.

Julia schneidet der Frau im Spiegel Grimassen, streckt ihr die Zunge heraus, ballt die Faust vor ihrem Gesicht. Sie lässt ihren Körper zusammenfallen, bis er aussieht wie ein Stück Fleisch, dann wieder breitet sie die Arme aus wie Jesus am Kreuz. Irgendwann lässt sie ihre Glieder hängen, neigt den Kopf nach vorne und schließt die Augen. Einige Sekunden lang verharrt sie, bis sie glaubt, ein Geräusch gehört zu haben. Sie schlägt die Augen abrupt wieder auf und blickt via Spiegel zum Fenster hinter ihr. Im ersten Moment bemerkt Julia gar nicht, dass da ein Gesicht zu sehen ist. Erst als es in einer zuckenden Bewegung nach unten verschwindet, wird ihr klar, dass da ein Mensch am Fenster gestanden haben muss, ziemlich sicher ein Mann, zumindest ließen dies die in Sekundenbruchteilen wahrgenommenen Gesichtszüge annehmen. Eher von Instinkt denn von Gedanken getrieben zieht sie mit hastigen Handgriffen die Vorhänge zu und streift sich ein T-Shirt über. Sie setzt sich auf die Bettkante und registriert die hektischen Atemzüge, die ihren Körper erzittern lassen.

Einige Minuten später geht Julia zur Toilette. Auf dem Weg begegnet sie ihrer Mutter.

«Was ist mit dir los?», fragt die Mutter mit besorgter Stimme. «Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!»

Julia schüttelt den Kopf und murmelt, dass alles in Ordnung sei, ohne zu wissen, warum sie ihrer Mutter die Begebenheit verschweigt. Sie versucht ein Lächeln, geht rasch ins Badezimmer und zieht die Tür hinter sich zu. Das Fenster hinter der Badewanne ist mit blickdichter Folie beklebt, und nachdem sie geprüft hat, dass der Fenstergriff zweifelsfrei verschlossen ist, fühlt sie sich einigermaßen sicher. Sie atmet ein, atmet aus, ganz bewusst, immer wieder, sie bemüht sich, ihre Muskeln zu entspannen, aber es gelingt nicht, sie verkrampft sich nur noch mehr.

Sie klammert ihre Finger an den Rand des Waschbeckens, sinkt in die Knie und lässt die Stirn gegen das Porzellan prallen. Ganz sachte, ganz langsam, aber stetig. Sie weiß nicht, warum sie es tut. Aber sie kann nicht aufhören. Immer wieder treffen die Kopfhaut und die kalte Oberfläche des Waschbeckens aufeinander, wie in einem Spiel, dessen einziger Zweck im Aushalten liegt. Sie spielt dieses Spiel, bis es sie langweilt. Vielleicht beginnt auch die Stirn zu schmerzen. Jedenfalls hört Julia auf. Und setzt sich auf den Boden, mit dem Kopf zwischen den Knien.

Seit jenem Tag ist das Gesicht jenes Mannes immer da, hängt als Zerrbild am Fenster ihres Schlafzimmers. Auch wenn die Vorhänge geschlossen sind, auch wenn das Licht gelöscht ist. Jedes Mal, wenn Julia ihr Zimmer betritt, geht der erste Blick zum Fenster. Jedes Mal, jedes verdammte Mal. Jedes Mal sieht sie ihn, und jedes Mal dauert es einige Sekunden, bis sie sich vergewissert hat, dass niemand am Fenster steht.

Dieser Mann, dessen Gesicht sie zwar gesehen hat, es aber nicht wirklich erfassen kann, dieser Mann verbleibt nicht nur am Fenster. Er schleicht sich allmählich in ihren Alltag, zeigt sich in Schaufenstern in der Stadt oder in banalen Gesprächen mit ihrem Vater, taucht in nächtlichen Gassen unmittelbar neben ihr auf oder lacht ihr von Fernsehbildschirmen entgegen. An manchen Tagen dringt dieser Mann in jeden beliebigen Mann ein, den sie sieht, das Gesicht am Fenster nimmt den Platz des üblichen Gesichtes ein. Julia weiß, dass dies nicht real sein kann, doch bisweilen ist sie sich nicht mehr sicher, was überhaupt real ist und was nicht, also kann sie sich auch nicht sicher sein, was nicht real ist und was doch. Einige Male murmelt sie nachts in die Dunkelheit ihres Zimmers, fleht das Gesicht an, endlich aus ihrem Leben zu verschwinden. Doch der Mann hockt lediglich stumm hinter dem Fenster und wartet darauf, sich wieder zu zeigen.

Die Veränderung bemerkt Julia erst, als ihre Mutter sie fragt, ob sie krank sei. Sie verneint reflexartig, doch die Mutter insistiert, dass Julia deutlich abgenommen habe und häufig bleich sei. Sie murmelt, dass sie wohl ein wenig übermüdet sei, viel zu tun habe und schlecht schlafe. Die Mutter zuckt mit den Schultern und macht deutlich, dass sie diesen Erklärungen wenig Glauben schenkt. Doch sie verzichtet auf weiteres Nachfragen und lässt Julia in Ruhe.

Als sie sich später auf die Waage stellt, zeigt diese tatsächlich fünf Kilogramm weniger als üblich an. Julia erschrickt und stellt sich vor den Spiegel im Badezimmer, mustert ihr Gesicht. Es wirkt unzweifelhaft schmaler, die Wangenknochen treten deutlicher hervor, und eine gewisse Blässe ist deutlich erkennbar. Während sie ihren Oberkörper berührt, wirken die Brüste kleiner und leichter als sonst, die Haut ist merkwürdig kühl. Der ganze Körper fühlt sich seltsam fremd an, nichts daran erinnert an jenen Hort, in welchem sie sich stets so geborgen und heimisch gefühlt hat. Einen Moment lang zittern ihre Knie, sie gerät ins Wanken und glaubt, eine Erschütterung zu vernehmen.

Nach jenem Tag bemüht sich Julia, mehr zu essen, sich häufiger zu bewegen, doch die Erschöpfung breitet sich immer mehr in ihren Gliedern aus. Schlapp und müde schleppt sie sich durch die Tage, sie friert häufig und ertappt sich immer wieder dabei, wie sie auf beliebige Stellen im Nirgendwo starrt. Die Welt um sie herum wird ungewohnt still, alles klingt gedämpft und zurückhaltend. Das Gesicht bleibt ihr Begleiter, doch sie zuckt kaum mehr zusammen, wenn sie es erblickt.

Und dann, eines Tages, ist das Gesicht verschwunden. Wohin sie auch sieht, es ist nicht mehr da. Julia öffnet das Fenster ihres Schlafzimmers, blickt hinaus in den Garten, lässt ein zaghaftes Hallo entweichen. Nichts. Niemand. Sie geht ins Badezimmer, öffnet auch dort das Fenster, dann schaltet sie den Fernseher im Zimmer ein, aber das Gesicht taucht nicht mehr auf. Und eigentlich müsste sie nun erleichtert aufatmen, müsste doch zufrieden sein. Doch als sie in den Spiegel blickt, zuckt sie zusammen. Sie trägt lediglich einen Slip, den BH hat sie bereits ausgezogen. Seltsam unbeholfen gräbt Julia ihre Finger in das Fleisch ihres Bauches, krümmt sich leicht nach vorne. Dann streift sie sich hastig ein T-Shirt über und legt sich ins Bett, löscht das Licht und zieht die Decke bis unter das Kinn. Sie starrt in die Dunkelheit, ohne zu blinzeln, minutenlang, bis die Augen brennen.

* * *

Sie haben diesen Text nicht benotet, aber sie haben die Worte Sehr gut! in die rechte obere Ecke geschrieben. Ich weiß noch, wie glücklich ich darüber war. An jenem Tag nahm ich den Text zu Hause aus meinem Rucksack und starrte lange Zeit auf dieses Sehr gut! Wahrscheinlich war ich dem Gefühl des Stolzes niemals näher als in jenem Moment.

«Man lebt doch nicht für die anderen Leute! Man lebt doch vor allem für sich selbst!» Als Sie mir diese Worte sagten, ging es nicht um diesen Text, auch um keinen anderen Text. Sie standen nach dem Unterricht hinter dem Schulhaus, suchten Schutz unter einem kleinen Vordach, weil es kurz zuvor heftig zu regnen begonnen hatte. Natürlich rauchten Sie. Anstatt Ihnen einen schönen Abend zu wünschen, bat ich Sie um eine Zigarette. Sie sagten mir, Rauchen sei ein Unding, hielten mir aber im gleichen Moment eine Zigarette hin. Wir begannen zu reden. Oder nein: Sie stellten mir Fragen und ließen mich reden. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. Wahrscheinlich ging es unter anderem um meine Ziele im Leben, meine Wünsche, meine Hoffnungen, meine Pläne, ganz profan. Ich sprach wohl über meinen Vater, den ich stolz machen wollte, und ich sprach wohl darüber, etwas Bedeutsames zu tun, einen Arbeitseinsatz in der Dritten Welt zu leisten oder in Indien in einem Sterbehaus zu arbeiten. Und irgendwann, in einem dieser Kontexte, blickten Sie mir in die Augen, legten eine Hand auf meine Schulter und äußerten eben jene Worte. «Man lebt doch nicht für die anderen Leute! Man lebt doch vor allem für sich selbst!» Wahrscheinlich stotterte ich irgendetwas, wahrscheinlich wich ich Ihrem Blick aus. Ganz bestimmt war ich nicht in der Lage, Ihnen etwas einigermaßen Sinnvolles zu entgegnen.

Und heute? Heute würde ich erwidern, dass Sie richtig und falsch liegen. Man lebt doch nicht nur für sich selbst. Man lebt doch auch für andere Menschen. Und manchmal lebt man überhaupt nicht. Ich bin bisweilen ziemlich gut darin, überhaupt nicht zu leben. Ich schiebe lediglich leere Zeit durch mein Dasein. In gewissen Momenten klammere ich mich dann an etwas, das mir bedeutsam und wichtig erscheint. Dieses Mal waren es Ihre Worte. Oder vielmehr die Dringlichkeit, die Sie Ihnen verliehen. Auch wenn Sie diese Begebenheit längst vergessen haben sollten; in jenem Moment unter dem kleinen Vordach hinter dem Schulhaus ließen Sie mich wissen, dass ich Ihnen wichtig war, dass ich einen Wert hatte. Ich spürte, dass Sie nicht einfach zu einer Schülerin sprachen, sondern zu mir. Mein Gefühl damals, es war nicht das gleiche Gefühl wie beim Sehr gut! in der rechten oberen Ecke des Blattes. Es hatte eine ganz eigene Qualität. Vielleicht ist es traurig oder bezeichnend, dass ich jenes Gefühl nicht beim Namen nennen kann. Doch ich bin froh, dass ich es spüren durfte. Und dafür, wie für vieles mehr, möchte ich Ihnen danken.

Herzliche Grüße
Nita Kaufmann

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