Kapitel 19: Ana hat im Supermarkt eine Begegnung mit einer merkwürdigen Kundin. (Mai 2016)

Seit sechs Jahren arbeitet Ana im Supermarkt, und in diesen sechs Jahren hat sich niemals etwas ereignet, das so merkwürdig war wie diese Situation. «Scheiße», wird Ana flüstern, wenn es vorbei sein wird, und sie wird sich wünschen, dass sie selbst nie so werden würde. Doch noch ist es nicht vorbei.

Sie kennt die Frau, zumindest rudimentär. Sie ist eine regelmäßige Kundin im Supermarkt, kauft stets nur wenige Artikel ein. Bisher ist sie Ana keinesfalls negativ aufgefallen, im Gegenteil. Ana fand stets, dass die Frau, deren Namen sie nicht kannte, ausnehmend hübsch war. Oder nein, nicht hübsch, sondern schön. Ana pflegt diesbezüglich einen Unterschied zu machen. «Man kann sich hübsch machen, aber man kann sich nicht schön machen», sagt Ana bisweilen und ist sich nicht sicher, ob sie den Satz irgendwo gelesen oder tatsächlich selbst erschaffen hat.

Wenn die Frau jeweils in den Supermarkt kam, wirkte sie stets ein wenig schüchtern, zugleich aber auch sehr liebenswert und freundlich. Ana dachte dann manchmal an ihre Tante Maria in Portugal, die ebenfalls sehr schüchtern und liebenswert und freundlich war und zudem umwerfend aussah, obwohl sie schon weit über 50 Jahre alt war. Die Frau im Supermarkt ist deutlich jünger, sie ist wohl etwa gleich alt wie Ana, auch wenn Ana viel älter aussieht, das ist ihr bewusst. Die zwei Jobs, die Müdigkeit, die Traurigkeit, diese Dinge haben Ana ausgelaugt. Manchmal stellt sie sich abends vor den Spiegel und erschrickt, wenn sie dieses erschöpfte Gesicht vor sich sieht. Sie wird zwar selten wütend, doch sie ist enttäuscht, und manchmal denkt sie, dass Enttäuschung schlimmer ist als Wut.

Schon als die Frau den Supermarkt betritt, wirkt sie anders als sonst. Sie trägt eine Sonnenbrille, obschon die Sonne gar nicht scheint, im Gegenteil, es ist ein grauer Tag, es regnet immer wieder. Nicht nur die Sonnenbrille ist seltsam, sondern auch ihre Kleidung. Üblicherweise ist die Frau durchaus modisch gekleidet, betont ihre Figur, beweist guten Geschmack. Heute jedoch trägt sie eine Art Jogginghose und einen Kapuzenpullover, der ihr viel zu groß ist, dazu alte Turnschuhe. Sie nimmt sich einen Einkaufswagen und fährt damit fast einen älteren Mann um, der ihr nicht schnell genug ausweichen kann.

Anas Blick folgt der Frau, die sich auf ihren Einkaufswagen stützt, als wäre ihr Körper aus Blei. Ihre braunen Haare stehen wirr und ungepflegt vom Kopf ab, verschwinden zum Teil in der Kapuze ihres Pullovers. Mit schweren Schritten schiebt sie den Einkaufswagen vor sich her, steuert das Weinregal an und bleibt davor stehen, ein wenig schwankend. Sie führt ihre Finger an die Preisschilder, dann beginnt sie, Flasche um Flasche in den Einkaufswagen zu legen. Einige fallen um, es klirrt und scheppert. Die Frau flucht, wirft die Hände in die Luft und schlägt dann mit den Fäusten auf die Griffstange des Einkaufswagens. Ein Mann, der bei Ana an der Kasse steht, blickt sie fragend an, doch Ana zuckt nur mit den Schultern und versucht weiterhin, die Artikel des Kunden einzuscannen und gleichzeitig die Frau im Augenwinkel zu behalten.

Mit mehreren Flaschen im Einkaufswagen geht sie weiter, greift nach Chips-Packungen und Schokoladenkeksen, und immer wieder hört Ana sie fluchen oder husten. Eine ältere Dame, die bei einem Regal beinahe mit der Frau zusammenprallt, ärgert sich lautstark.

«Passen Sie doch auf!»

«Pass doch selber auf, du alte Schnepfe!», gibt die Frau zurück und fuchtelt mit ihren Fäusten, woraufhin die ältere Dame einen Schritt zurückweicht.

«Sie sind sehr unhöflich, wissen Sie das?»

«Unhöflich? Unhöflich? Ich bin böse, Oma!», bellt die Frau und schiebt die Sonnenbrille nach oben. «Verdammt böse! Wenn du nicht so alt wärst, würde ich dir in die Fresse hauen! Du… Du… Ach!»

Sie zerrt an ihrem Einkaufswagen und stapft davon, während die alte Dame ihr nachblickt und den Kopf schüttelt.

Ana verliert die Frau aus den Augen und bedient einen weiteren Kunden. Als sie fünf Minuten später zu ihr an die Kasse kommt, hat sie neben Weinflaschen, diversen Snacks und Süßigkeiten auch einen riesigen Topf mit einer künstlichen Zimmerpflanze im Einkaufswagen, von dem Ana nicht einmal wusste, dass ihn der Supermarkt im Angebot hat. Die Frau beginnt, das Laufband mit ihren Artikeln zu füllen, geräuschvoll und ziemlich unbeholfen. Die Zimmerpflanze kommt zu Beginn, dann einige Chips-Verpackungen, dann der Wein. Zwar stellt sie die Flaschen nicht hin, sondern legt sie auf das Band, damit sie nicht umkippen. Doch sie legt sie quer, und als Ana das Band vorwärtslaufen lässt, rollen die Weinflaschen lediglich an Ort und Stelle, wie Walzen. Die Frau versucht, die Flaschen in eine günstigere Position zu bringen, doch es gelingt ihr nicht wirklich. Ana hat gerade die Zimmerpflanze gescannt, als sie feststellt, dass die Dinge auf dem Laufband ein wenig verzwickt sind. Sie hält das Band an und wartet, damit die Frau die Flaschen korrekt anordnen kann, doch dazu kommt es nicht, denn die Frau entschließt sich, die Flaschen in merkwürdigen Konstellationen übereinanderzulegen.

Ana befürchtet, dass die Flasche zu Boden fallen wird, sie kann es beinahe voraussehen, doch als es tatsächlich geschieht, zuckt sie dennoch erschrocken zusammen und schlägt eine Hand vor dem Mund. Die Frau starrt sekundenlang regungslos auf die zerbrochene Flasche auf dem Boden, als könne sie nicht verstehen, dass sich herunterfallende Flaschen auf diese Weise gebärden. Dann blickt sie zu Ana, ebenso regungslos wie zuvor. Schließlich zucken die Mundwinkel ein wenig, die Wangen verschieben sich. Erst nach einigen Sekunden merkt Ana, dass die Sache, die im Gesicht der Frau geschieht, ein Lächeln sein soll.

Einen Augenblick später lässt sich die Frau auf die Knie fallen und kippt vornüber. Ana spürt, wie ein Gefühl der Angst und Beklemmung sie ergreift, und lehnt sich über die Kasse, doch die Frau ist keineswegs bewusstlos geworden oder dergleichen. Stattdessen kniet sie über der Weinlache, die Haare hängen am Kopf herab, die Hände stützen sich ab, die Sonnenbrille liegt zwei Meter entfernt. Entgeistert sieht Ana zu, wie die Frau mit ihrer Zunge den Wein vom Boden aufleckt, wie ein Tier, wie ein Hund.

«Lassen Sie das doch», sagt Ana leise, doch die Frau reagiert nicht. Ana steht auf, sieht sich hilfesuchend um, doch Andrej, der am anderen Kassenterminal arbeitet, ist gerade mit einer Kundin beschäftigt, und ansonsten ist niemand zu sehen.

Ana steht auf, geht auf die andere Seite der Kasse und kniet sich neben die Frau.

«Lassen Sie das doch», wiederholt Ana und legt der Frau vorsichtig die Hand auf den Rücken, doch diese lässt sich nicht beirren, leckt weiter den Wein auf und bewegt dabei ihren Kopf stetig nach allen Seiten, um die gesamte Lache bearbeiten zu können.

«Hören Sie doch bitte auf», flüstert Ana. «Ich wische das weg, und Sie können sich eine neue Flasche holen.»

«Lass mich», grummelt die Frau, ohne ihr Gesicht vom Boden wegzubewegen. «Wein verschwendet man nicht.»

Bald darauf scheint sie allmählich genug zu haben, sie richtet sich ein wenig auf und sieht sich prüfend um, ob noch größere Mengen Wein zu sehen sind. Dann versucht sie aufzustehen, kippt aber zur Seite und landet neben Ana, lehnt sich an den Kassenkorpus und bleibt benommen sitzen.

Ana kniet sich vor sie hin, legt ihr eine Hand auf das Knie und erschrickt, als die Frau ihre Hand greift und sie an ihren Brustkorb zieht.

«Spürst du das?», will die Frau wissen und fixiert Ana mit stechendem Blick. «Spürst du das?»

«Was?», gibt Ana vorsichtig zurück. «Ihr Herz?»

«Ja, verdammt! Mein Herz! Mein verdammtes Herz! Das schlägt doch da drin, oder?» Die Stimme der Frau wird lauter, befeuert durch ihre Trunkenheit. «Da schlägt doch ein Herz, nicht wahr?»

Ana nickt und versucht gleichzeitig, ihre Hand zurückzuziehen. Doch der Griff der Frau ist überraschend stark und fest.

«Es ist bestimmt ein gutes Herz», stammelt Ana.

«Ein gutes Herz?», krächzt die Frau. «Ein gutes Herz? Ach was! Es ist ein dreckiges Herz. Hat viele schwarze Flecken. Und Löcher. Es ist ein kaputtes Herz. Ein kaputtes Herz. Aber es ist ein Herz, verstehst du?»

Ana weiß nicht, ob sie versteht, doch sie wagt nicht, ihre Frage zu verneinen, also nickt sie behutsam.

Die Frau vergräbt ihre Gesicht in den Händen und schreit in die Handflächen. Als sie ihr Gesicht wieder befreit, glitzern Tränen in den Augenwinkeln.

«Ein gutes Herz?», sagt die Frau überraschend leise, beinahe flüsternd. «Wer entscheidet, wann ein Herz gut ist? Und was geschieht, wenn ein Herz nicht mehr gut ist? Kann man es wieder gut machen?»

«Ich weiß nicht», gibt Ana zurück und fühlt sich einen Moment lang ziemlich dumm.

«Wie heißt du», fragt die Frau und lächelt plötzlich, ganz ohne Anstrengung. Ihre Schulter sinken leicht herab, sie schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

«Ana», antwortet sie zögernd.»

«Ana?»

«Ana Cristina Pinto.»

«Oh, schön. Spanisch?»

«Nein, portugiesisch.»

«Ich heiße Nita.»

«Anita?»

«Nein, nur Nita. Das A ist Vergangenheit.»

«Nita.»

«Genau.»

«Du musst aufstehen, Nita. Du kannst nicht hier sitzen bleiben.»

«Ich weiß. Ich weiß.»

Nita rappelt sich hoch, gestützt von Ana. Hinter den beiden Frauen hat sich eine kleine Gruppe von Menschen gebildet, und Ana stammelt, dass sie gerne an der anderen Kasse zahlen könnten. Doch niemand regt sich, alle starren sie ein wenig dümmlich an. Sie stellt das Kasse-geschlossen-Schild auf das Laufband und geht zur Kasse, um die restlichen Artikel von Nita einzuscannen.

Nita steht ihr gegenüber und beginnt erneut zu weinen.

«Es tut mir leid», stammelt sie, während sie ihre Sonnenbrille wieder aufsetzt.

«Ist schon okay», gibt Ana zurück und zeigt auf die Digitalanzeige der Kasse. «Hast du genügend Geld, Nita?»

Sie nickt und holt ihren Geldbeutel hervor, zieht eine Kreditkarte heraus und schiebt sie ins Zahlungsterminal. «Zum Glück habe ich den einfachsten Code der Welt», sagt Nita seltsam glucksend und drückt offenbar einige Male auf die gleiche Taste. «Das Leben ist schon kompliziert genug.»

Ana hilft Nita, die gekauften Artikel in die Papiertüte zu packen. Während sie schweigend nebeneinander stehen, formt Ana in ihrem Kopf Sätze, die sie Nita gerne sagen würde. Wenn du Hilfe brauchst oder traurig bist, kannst du mich gerne anrufen. Trink nicht den ganzen Wein auf einmal. Gib auf dich acht. Dein Herz ist ganz sicher ein gutes, ein wertvolles Herz. Ana glaubt diesen Gedanken, aber sie glaubt nicht, dass sie als gesprochene Sätze richtig wären, sie glaubt nicht, dass sie das Recht hat, diese Dinge zu sagen. Also bleibt sie stumm. Erst beim Abschied sagt sie leise: «Mach‘s gut, Nita.» Und weiß nicht genau, ob sie es gehört hat.

Dann schaut sie Nita nach, wie sie aus dem Supermarkt taumelt, mit der Tüte in einer Hand und der Zimmerpflanze in der anderen. Und obwohl sie vielleicht Nitas hässlichste Seite gesehen hat, ist sie noch immer der Ansicht, dass sie eine schöne Frau ist.

«Scheiße», flüstert Ana und wünscht sich, dass sie selbst nie so werden wird. Gleichzeitig bedauert sie, dass sie nun hier sitzt, auf dem Drehstuhl hinter der Kasse, mit dem unbehaglichen Gefühl in der Brust, nicht das Richtige, nicht genug getan zu haben. «Scheiße.»

Dann blickt sie hinüber zu Andrej, an dessen Kasse sich eine lange Schlange gebildet hat. Sie sieht seinen entnervten Blick, nickt ihm zu und räumt das Kasse-geschlossen-Schild wieder vom Laufband. Eine ältere Dame legt einigen Nudelpackungen und Konservendosen auf das Band. Ana lächelt ihr kurz zu und beginnt zu scannen.

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