Als sie die Tür öffnet, sieht sie nur den großen Blumenstrauß. Keine Rosen, sondern ein buntes Durcheinander mit Grün. Natürlich weiß sie, dass Paul sich hinter dem Strauß verbirgt, doch als sich die Blumen zur Seite neigen und sie sein Gesicht sieht, zuckt Nita dennoch ein wenig zusammen.
«Du bist zu früh dran», sagt sie.
«Ich kann gar nicht früh genug dran sein», gibt Paul zurück und setzt sein Grinsen auf, das ihn zehn Jahre jünger erscheinen lässt. Nita tritt einen Schritt zur Seite und lässt ihn eintreten. Er hängt seinen Mantel an den freien Haken der Garderobe, zieht seine Schuhe aus und stellt sie genau unter den Mantel. Vollkommen parallel, fein säuberlich.
«Du Pedant!», raunt Nita und schiebt mit ihren nackten Füssen einen seiner Schuhe zur Seite. Paul setzt einen empörten Gesichtsausdruck auf und zieht Nita zu sich heran.
«Ich bin kein Pedant. Ich mag es eben einfach ordentlich.»
«Ach ja?», gibt Nita zurück und ist überrascht, wie scharf der Unterton ihrer Stimme klingt. Dann zerzaust sie Paul mit einigen Handbewegungen die Haare und lässt ihn stehen, geht in ihr Schlafzimmer und legt sich auf das ungemachte Bett. Sie kann beinahe hören, wie Paul seine Schuhe wieder akkurat platziert. Dann vernimmt sie seine Schritte auf dem Parkettboden und stellt sich schlafend.
«Oh, die Prinzessin schläft», flüstert Paul mit verschwörerischer Stimme, als wäre er mit einem Komplizen unterwegs. «Schlaf gut, schöne Prinzessin.»
Nita spürt, wie das Gewicht von Pauls Körper die Matratze niederdrückt. Sie widersteht dem Drang, ein Auge leicht zu öffnen, um ihn zu sehen, und bleibt stattdessen regungslos liegen. Sie glaubt, die Wärme seines Körpers zu spüren, doch die erwartete Berührung bleibt aus.
Als er sie, wahrscheinlich unabsichtlich, ganz leicht an der Schulter berührt, zuckt sie so heftig zusammen, dass ihm ein kindliches «Ui!» entfährt. Sie versucht, weiterhin still zu verharren, doch ihre Mundwinkel zucken bereits, und schließlich kann sie das Lachen nicht mehr unterdrücken.
«Warum lacht denn die Prinzessin plötzlich?», fragt Paul.
«Dein Ui!», presst Nita hervor und versucht, wieder ernst zu werden.
«Mein Ui?», wundert er sich. «Was ist denn so witzig an meinen Ui?»
«Es klang wie das Ui eines kleinen Jungen.»
«Magst du kleine Jungen nicht?», will Paul wissen.
«Ich will jedenfalls nicht mit kleinen Jungen ins Bett», gibt sie zurück und dreht sich zur Seite.
Nach einigen Sekunden spürt sie seine Hand auf ihrem Oberschenkel. Er lässt sie über den Stoff ihres Rockes gleiten, dann zur nackten Haut ihrer Beine. Seine Hand ist warm, fühlt sich ein wenig rau und zerfurcht an, aber nicht unangenehm. Er schiebt seine Finger langsam zu ihrem Schienbein, danach wandern sie langsam wieder nach oben, schlüpfen beinahe spielerisch unter ihren Rock. Als er bemerkt, dass sie keinen Slip trägt, hält Paul einen Moment lang inne, und Nita fühlt sich seltsam ertappt.
Er drückt seinen Körper an ihren und beginnt, seine Hand in ihrem Schoß zu bewegen. Er schiebt die andere Hand unter ihr hindurch und tastet nach ihre Brüsten. Sie spürt seine Erektion an ihrem Hintern, schiebt ihre Hand in seine Hose und greift langsam nach seinem Penis.
Ein weiteres Mal bleibt ihr Orgasmus aus. Als er aufsteht und zur Toilette geht, greift sie sich zwischen die Beine und beginnt, sich zu befriedigen, lässt aber nach wenigen Sekunden wieder davon ab. Sie richtet sich auf, fischt eine Zigarette aus der Packung neben dem Bett und zündet sie an. Während sie den Rauch in den Raum bläst, denkt sie daran, dass sie in einigen Monaten dreißig Jahre alt wird. Dreißig, verdammt, hört sie eine Stimme in ihrem Kopf. Nicht wenige ihrer Freundinnen und Bekannten sind in diesem Alter bereits Mutter oder haben Karriere gemacht, manchen ist sogar beides gelungen. Zwar sehnt sich Nita weder nach einer Karriere noch nach dem Mutterdasein, trotzdem fühlt sie einen leichten Stich hinter den Rippen.
Sie hat durchaus Träume. Sie würde gerne nach Indien reisen, vielleicht in einem Sterbehaus arbeiten, oder in einem Kinderheim. Sie würde gerne in einem afrikanischen Dorf dabei helfen, einen Brunnen zu bauen, damit die Dorfbewohner endlich genügend Wasser haben. Sie würde gerne für das Rote Kreuz tätig sein, oder für Unicef, oder für Amnesty International. Sie möchte einfach etwas tun, das einen Nutzen bringt, möchte anderen Menschen helfen, möchte etwas bewirken, so naiv und einfältig es auch klingen mag. Die Trägheit ihres Daseins ist ihr verhasst, sie möchte fliehen, möchte ausreißen, möchte zumindest ausweichen. Doch sie schafft es nicht, sich vom Konjunktiv zu lösen. Sie möchte, sie würde, sie könnte. Doch stattdessen bleibt sie einfach liegen und raucht ihre Zigarette.
«Du siehst nicht sonderlich glücklich aus», findet Paul, als er von der Toilette zurückkommt und sich wieder neben sie legt.
«Ach», gibt Nita zurück. «Dabei müsste ich doch die glücklichste Frau dieses wunderbaren Planeten sein.»
«Ich höre einen gewissen Zynismus.»
Nita zuckt mit den Schultern, drückt die Zigarette aus und zündet sich umgehend eine neue an.
«Er steht dir nicht gut, der Zynismus», sagt er.
«Ach komm», erwidert sie nach einem kurzen Moment des angespannten Schweigens. «Es stimmt doch! Ich müsste doch so unglaublich glücklich sein! Schließlich darf ich von dir gevögelt werden! Dieser berühmte Mann, dieser bekannte Politiker treibt es mit einer nichtsnutzigen Frau wie mir! Ich weiß dieses Privileg durchaus zu schätzen.»
Paul starrt sie an, als wäre sie eine Fremde. Dann betrachtet er seine Hände, mustert seine Arme, seine Knie.
«Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, Nita. Ich weiß auch nicht, womit ich dein Verhalten verdient habe.»
«Womit du mein Verhalten verdient hast?», fragt sie angriffslustig. «Es geht doch nicht darum, was du verdient hast oder nicht! Es geht nicht immer nur um dich! Auch wenn das für dich schwer zu verstehen ist.»
«So meinte ich das doch nicht», versucht Paul einzulenken.
«Wie meintest du es dann? Interessiert dich überhaupt, was ich fühle? Was ich denke? Wie es mir geht? Ich habe den Eindruck, es ist dir vollkommen egal. Scheißegal.»
«Nein, es ist mir…»
«Ich glaube, ich könnte genauso gut jemand anders sein», fährt Nita unbeirrt fort. «Irgendjemand. Eine andere Frau, die du vögeln kannst. Es würde keinen Unterschied machen. Du würdest einfach einer anderen Frau diese Blumen bringen, würdest eine andere Frau Prinzessin nennen. Alles, was sich ändern würde, wäre die Adresse. Vielleicht noch die Haarfarbe.»
Paul versucht, seine Hand auf Nitas Arm zu legen, doch sie dreht sich weg und steht abrupt auf. Sie zieht sich ein T-Shirt und eine kurze Hose an, stellt sich ans Fenster und blickt hinaus.
«Soll ich gehen?», fragt Paul leise.
«Mach doch, was du willst», gibt Nita ebenso leise zurück.
«Willst du erzählen, wo das Problem liegt?»
Nita tritt ans Bett, aber nur, um sich eine weitere Zigarette aus der Packung zu ziehen. Sie stellt sich wieder ans Fenster und starrt auf die wenigen Lichter, die sie von ihrer Wohnung aus sehen kann.
«Was bin ich für dich?», fragt sie, ohne auf eine Antwort zu hoffen. «Hast du Pläne mit mir, mit uns?»
«Was du für mich bist?», hört sie Paul hinter ihrem Rücken sagen. «Ich liebe dich. Das bist du für mich.»
«Das ist lediglich ein Satz. Jeder kann diesen Satz sagen. Der Satz allein bedeutet nichts.»
«Was erwartest du denn?»
«Es geht nicht darum, was ich erwarte», erwidert sie und blickt ihn an. «Aber es geht darum, dass wir uns nur an Orten treffen, an denen uns niemand sieht. Wir haben kein gemeinsames Umfeld, keine gemeinsamen Bekannten. Dieses Wir, es existiert nicht in der Welt. Es existiert in dieser Wohnung, manchmal auch im Hotel oder in deinem Wagen. Aber außerhalb diese Räume gibt es uns nicht.»
Paul sitzt auf der Bettkante, die Hände liegen verschränkt im Schoß. Er blickt schweigend auf eine Stelle auf dem Boden, und einen Moment lang möchte Nita wissen, was er dort sieht. Dann wird ihr klar, dass es nichts zu sehen gibt.
«Hast du mir zugehört?», hakt Nita nach. «Verstehst du, was ich meine?»
Paul nickt und bewegt langsam seinen Kopf, doch nur, bis er einen neuen Punkt auf dem Boden findet, den er anstarren kann.
«Ich will kein Hobby von dir sein.»
«Du bist kein Hobby», flüstert Paul.
«Aber ich komme mir so vor, verstehst du? Und ich kann das nicht.»
«Ich kann nicht einfach so alles aufgeben. Das weißt du.»
«Ja, das weiß ich. Ich weiß es nur zu gut.»
Paul versucht, seine Position in ausufernden Argumenten darzulegen, doch nichts, was er sagt, ist neu, sie hat alles bereits gehört, zum Teil mehrfach. Er spricht von seiner Stellung, von den Wählern, von den Parteikollegen. Er spricht von seiner Frau, von den Kindern, von seinen Eltern. Er spricht von seinen Gefühlen und von der Realität. Doch er spricht nicht wirklich von ihr. Er spricht um sie herum. Er bewegt sich mit seinen Worten in einer gewissen Distanz zu ihr, an der Peripherie. Sie kann ihn kaum erkennen dort draußen.
Irgendwann steht er auf, zieht sich an und tritt zu ihr ans Fenster. Er versucht ziemlich unbeholfen, sie zu umarmen, doch sie lässt ihn nicht. Er wendet sich ab, geht zur Tür, zieht seine parallel liegenden Schuhe wieder an, nimmt den Mantel vom Haken und verabschiedet sich mit wenigen Worten. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, zeigt Nita ihm den Mittelfinger. Dann lässt sie sich auf das Bett fallen und gräbt ihr Gesicht in das Kissen.
Sie denkt daran, was sie tun würde, wenn Paul seine Familie verlassen und in aller Öffentlichkeit verkünden würde, dass er einzig und allein Nita liebe und bis an sein Lebensende mit ihr zusammen sein wolle.
Wahrscheinlich würde sie wegrennen. Weit wegrennen.