Sie blickt in den großen Spiegel. Da ist ein Kopf, ihr Kopf, aber kein Gesicht, da sind Konturen, aber keine Details. Da ist nur eine breiige Masse ohne greifbaren Inhalt. Sie wundert sich nicht, hinterfragt nicht. Das Bewusstsein fehlt. Es fehlt sogar das Bewusstsein, dass das Bewusstsein fehlt.
Sie atmet ein, atmet aus, schlägt sich mit den flachen Händen heftig auf die Wangen und spürt dennoch keinen Schmerz. Hinter mehreren Türen und Mauern hört sie die Musik, sie schwillt an und ebbt ab, die Töne gleichen Wellen. Bald darauf brandet Applaus auf, neue Wellen, andere Wellen. Sie hofft, dass das Wasser nicht zu kalt ist.
Die Welt in diesem Ankleideraum, in dieser Garderobe, sie ist beigefarben. Das Licht, die Wände, ihre Haut, alles ist in dieses sandige Hellbraun getaucht, als sähe man die Welt durch einen optischen Filter. Sie sieht sich um, sieht die Kostüme an den Kleiderstangen hängen, sieht die Schminkutensilien, sieht die Sporttaschen der anderen Tänzerinnen. In einer Ecke liegt ein Paar Schuhe, Turnschuhe. Ihr fällt auf, dass sich bei einem der beiden Schuhe die Sohle löst. Sie fragt sich, ob das Mädchen, dem sie gehören, arm ist oder nur zu faul, um neue Schuhe zu kaufen. Sie betrachtet die anderen Schuhe im Raum, doch sie findet keine Sohlen mehr, die sich lösen. Ein einziger Schuh, ansonsten ist alles in Ordnung, wie es scheint.
Einige Minuten muss sie noch warten. Sie ist erst im zweiten Teil des Programms an der Reihe. Alles, was zuvor kommt, ist eine Art Vorspiel, jede Tänzerin bereitet ihr den Boden, jeder Tänzer arbeitet sich zum Moment vor, in welchem sie ihren Auftritt hat. Sie spürt, wie sich ihre Muskeln zusammenziehen, und versucht, sich zu entspannen.
Eine ältere Frau betritt die Garderobe, tritt zu ihr hin, legt ihr eine schmale Hand mit dürren Fingern auf die Schulter. Sie sieht diese Hand im Spiegel, wie die Glieder eines Skeletts hängen die Finger an ihr hinunter. Sie wendet ihren Kopf dieser Frau zu, versucht zu lächeln, doch die Frau will das Lächeln gar nicht sehen. «Es ist Zeit», knurrt die Frau. «Noch fünf Minuten. Mach dich bereit.» Sie nickt, und die Frau wendet sich ab, verschwindet langsam aus dem Blickfeld. Sie ist wieder allein, trotzdem glaubt sie die knochigen Finger der Frau noch auf der Schulter zu spüren.
Abrupt steht sie auf, starrt noch einmal auf das leere Gesicht im Spiegel und geht dann zur Tür. Auf dem Flur bleibt sie stehen, blickt sich um, lauscht. Von rechts dringt das Rauschen der Musik heran, sie sieht Menschen am Ende des Korridors. Doch sie geht nach links, eilt um die nächste Ecke und taucht in einen weitaus dunkleren Korridor ein. Bevor sie gänzlich die Orientierung verliert, entdeckt sie eines jener grünen Notausgang-Schilder, auf welchen eine Person zu einer Tür läuft, und unter diesem Schild findet sich tatsächlich eine Tür. Sie reißt sie auf, stolpert eine Treppe hinauf und steht plötzlich auf einer Art Balkon. Vor ihr breitet sich die Stadt aus, mit wild wuchernden Formen und nahezu erdrückender visueller Macht. Einige Hochhäuser wirken wie Waffen, die in den Himmel treiben, die Wolken durchstechen. Obwohl es kaum mehr hell ist, wirkt alles hellgrau und blass, zugleich kantig und kalt. Irgendwo erklingt ein stetiges Hämmern, in den fernen Gassen verbinden sich Hupen und Motorenlärm zu einem industriellen Brei. Sie stützt sich mit den Händen auf der schmalen Mauer vor ihr ab, lehnt sich nach vorne und blickt hinab. Unter ihr öffnet sich ein Abgrund, der keine Ende zu kennen scheint, ihr Blick verliert sich in endlosem Schwarz.
Ohne zu zögern, klettert sie auf die Mauer. Mit spielerischer Leichtigkeit gelingt es ihr, die Balance zu wahren. Sie drückt den Rücken durch und die Schultern nach hinten, lässt den Kopf in den Nacken kippen und blickt hinauf zum Himmel. Er ist ebenso finster wie der Abgrund unter ihr. Irgendwo fliegt ein Flugzeug vorüber, die Signallichter leuchten in regelmäßigen Abständen auf, doch plötzlich hört das Blinken auf, und ohne Blinken ist auch das Flugzeug nicht mehr zugegen, es verschwindet vom Himmel, als hätte es nie existiert. Sie blickt erneut auf die Formen der Stadt, schließt dann die Augen und springt.
Sie müsste die Arme nicht ausbreiten, um fliegen zu können, tut es aber trotzdem, als wolle sie ein Zeichen setzen oder ihren Stolz manifestieren. Zumindest widersteht sie dem Impuls, mit ihren Armen zu flattern wie ein Vogel mit seinen Flügeln. Während sie über die Straßen der Stadt schwebt, sieht sie sich um, lässt ihren Blick über Häuserkanten und Fassaden stolpern. Da sind Autos, da sind Busse, da sind kleine Parks und asphaltierte Plätze, doch nichts davon ist ihr vertraut, sie hat keine Ahnung, in welcher Stadt sie sich befindet, die wenigen Neonschilder, an denen sie vorüberfliegt, kann sie weder entziffern noch zuordnen. Sie weiß nicht, ob ihr Flug sie zu einen bestimmten Ziel führen soll, also lässt sie sich einfach treiben, vertraut ihren Körper dem Wind an. Sie schwebt über dicht besiedelte Stadtteile, dann über öde Industrieviertel und erreicht bald einen Wald, der sich einen Hügel hinaufzieht. Noch immer fehlen jegliche Bezugspunkte, doch sie fühlt sich nicht fremd, hat keine Angst.
Auf dem höchsten Punkt des Hügels steht eine riesige Antenne, vielleicht eine Handy-Antenne, vielleicht eine Radio-Antenne, es ist egal. Sie fliegt einmal um die Antenne herum und greift dann mit ihren Fingern nach den erstaunlich dicken Metallstangen. Als sie sich auf einem kleinen Plateau nahe der Antennenspitze niederlässt, ist sie zum ersten Mal überrascht, über welche Fähigkeiten sie verfügt. Diese Freiheit, sie ist ihr neu, das Losgelöstsein ist ihr unbekannt, dennoch wirkt nichts davon fremd. Sie hat den Eindruck, dass sie, ohne es zu wissen, schon lange auf diesen Moment gewartet hat. Sie sieht sich um, blickt zu den fernen Lichtern der Stadt und versucht vergeblich, vertraute Gebilde zu erkennen. Doch da draußen ist nichts, das ihr nah ist. Alles ist zu weit weg, zu weit von ihr entfernt. Da ist nur sie selbst. Nur sie selbst ist ihr nah. Die Signale, welche die Antenne zweifellos einfängt, sie werden an ihr vorbeigeleitet, ohne dass sie davon etwas spürt. Sie nimmt nichts davon auf. Womöglich, weil sie weiß, dass sie mit den Signalen nichts anfangen könnte. Sie steht einfach da, auf ihrem kleinen Plateau, während die Menschen miteinander kommunizieren, ohne sich anzublicken.
Irgendwann beschließt sie, zum Theater zurückzufliegen; nicht unbedingt, weil sie will, sondern eher, weil sie es als Pflicht versteht, als Aufgabe, die es zu erledigen gilt. Zunächst findet sie es nicht, fliegt in alle Richtungen und gerät in leichte Panik. Als sie es endlich erreicht, versucht sie, auf dem kleinen Balkon zu landen, doch das Gebäude, es scheint verändert. Da sind keine Balkons, keine Mauervorsprünge, keine breiten Fenstersimse mehr. Sie fliegt mehrere Male um den schroff wirkenden Betonblock herum, und obschon sie ganz sicher ist, dass es sich um das Theatergebäude handelt, findet sie keinen Zugang, keine Möglichkeit, um wieder hinein zu gelangen. Schließlich landet sie auf dem flachen Dach und bricht zunächst erschöpft zusammen. Nachdem sie sich aufgerappelt hat, sucht sie nach einer Tür, nach einer Öffnung, doch das ganze Flachdach bietet offenbar keinen Eingang. Da ist nicht einmal ein Lüftungseinlass, ein Kamin oder dergleichen. Sie geht von einer Seite des Gebäudes zur anderen, dann wieder zurück, dann diagonal zur Seite. Nirgends findet sich ein Weg hinein ins Theater.
Zunächst sucht sie nach einer logischen Erklärung für die veränderten Bedingungen, doch mit jeder Minute, die sie auf dem Flachdach zubringt, gerät sie mehr in Panik. Sie eilt zu allen Seiten, blickt immer wieder angstvoll hinunter. Der Abgrund ist so schwarz wie zuvor, darin liegt immerhin eine gewisse Art von Vertrautheit, doch ansonsten gräbt die Angst ihre Zähne immer tiefer in ihr Fleisch. Sie ruft um Hilfe, ist aber nicht wirklich überrascht, dass offensichtlich niemand sie hören kann.
Sie stellt sich an den Rand des Daches und beschließt, wieder zu fliegen, um vielleicht auf diese Weise einen Eingang zum Gebäude oder aber ein neues Ziel zu finden. Ein weiteres Mal blickt sie hinauf zum schwarzen Himmel, dann hinab zum schwarzen Abgrund. Und springt. Doch anders als zuvor wird sie nicht vom Wind getragen. Sie schwebt nicht schwerelos über den Straßen, sondern rast hilflos nach unten, in zunehmender Geschwindigkeit, immer schneller, immer schneller. Das Schwarz des Abgrunds greift um sich, umarmt sie, vereinnahmt sie. Unter ihr reißt eine unbekannte Präsenz ihr riesiges Maul auf, ganz offensichtlich bereit, sie zu verschlingen.
Dass sie schreit, merkt Nita erst, als sie erwacht. Sie richtet sich auf in ihrem Bett, schnappt noch immer panisch und keuchend nach Luft, krallt ihre Finger in die Matratze und presst ihre Zähne zusammen. Während sie sich langsam an das Wachsein gewöhnt, blinzelt sie in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Vor ihr hebt sich das Fenster leicht ab, ein blaugraues Viereck, umgeben von schwarzem Nichts. Nita tastet nach dem Lichtschalter, doch als sie ihn findet, schaltet sie die Lampe dennoch nicht ein. Hinter mehreren Türen und Mauern glaubt sie Musik zu hören, sie schwillt an und ebbt ab, die Töne gleichen Wellen.
Sie mag nicht tanzen. Jede Faser ihres Leibes scheint sich dagegen zu wehren. Ihre Beine sind zu müde, ihr Körper wirkt schwer und schlapp, alt und träge, gerade so, als wäre es ein anderer Körper, der ihr ungefragt anvertraut worden wäre.
Schließlich legt sich Nita wieder hin, bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, atmet ein, atmet aus. Zunächst bleibt sie still, dann beginnt sie, sich mit den flachen Händen heftig auf die Wangen zu schlagen. Sie wartet auf eine Reaktion. Sie wartet auf den Schmerz. Doch der Schmerz kommt nicht.