Kapitel 12: Dass Lisa ihr von einer Erschütterung erzählt, sorgt bei Nita ebenfalls für eine Erschütterung. (Juni 2015)

Sie will nicht unbedingt mitgehen. Nita fühlt sich nicht sonderlich wohl bei diesen Treffen nach der Arbeit, kommt sich vor wie ein nachträglich aufgedrücktes Stück Teig, das sich nicht mehr mit dem restlichen Kuchen verträgt. Mit den meisten Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen aus dem Büro findet sie keine gemeinsame Ebene, um sich auszutauschen, die Gespräche kommen nur beschwerlich in Gang und schlagen in der Regel ziemlich schnell in ein ratloses Schweigen um, ein Schweigen, das ihr Unbehagen noch intensiviert.

Es gibt niemanden im Team, dessen Gegenwart ihr in besonderem Masse widerstrebt, es sind durchaus angenehme Menschen, keiner unter ihnen fällt durch Anzüglichkeiten, außergewöhnliche Dummheit oder übertriebene Arroganz auf. Eigentlich fällt überhaupt niemand auf. Und vielleicht sind ihr diese gemeinsamen Ausflüge in irgendwelche Kneipen auch deshalb so egal. Weil nichts und niemand sich vom Alltäglichen und Gleichförmigen abhebt.

Das ist Mark, der sich gerne als Clown gebärdet, ohne tatsächlich witzig zu sein. Da ist Evelyn, die ihre Blusen stets eine Nummer zu klein kauft. Da ist Lars, der Schwede, der weit über zwei Meter hoch ist und kaum ein Wort spricht. Da ist Emma, die wohl gerne jeden Mann in ihrem Umfeld verführen möchte, dabei aber alles andere als verführerisch wirkt. Da ist Alex, der sich noch nicht sicher ist, wie offen er seine Homosexualität zeigen darf. Da ist Stephanie, die beinahe schmerzhaft schrill und laut lacht. Das sind die Menschen, mit denen Nita derzeit die meiste Zeit verbringt, das ist ihr Umfeld, doch nah fühlt sie sich ihnen nicht. Aber sie sind präsent, sie sind anwesend, sie leisten Gesellschaft, und Nita ist im Moment ziemlich dankbar für Gesellschaft, darum geht sie an jenem Abend ein weiteres Mal mit, als sie sich in der Tiger-Bar um die Ecke treffen.

Da ist auch Lisa, doch Lisa ist neu, und Nita weiß noch nichts über sie. Wobei Lisa nicht ganz neu ist, sie arbeitet schon seit einigen Monaten in der Firma, doch ihr Arbeitsplatz befindet sich zwei Büros weiter, und zwei Büros weiter ist bisweilen zu weit entfernt, wie es scheint. Jedenfalls hat Nita bisher noch kein Wort mit ihr gesprochen.

Im schummrigen Licht der Tiger-Bar schieben sie wie gewohnt zwei Tische zusammen. Nita sitzt zwischen Stephanie und Lars, wodurch eines ihrer Ohren dem schrillen Lachen ausgesetzt ist und das andere Ohr dem skandinavischen Schweigen, was nicht unbedingt zu ihrem inneren Gleichgewicht beiträgt. Mark versucht wie üblich, die Stimmung mit seinen Witzen zu erhellen, doch abgesehen von Stephanie erreicht sein Humor zunächst kein allzu wohlgesinntes Publikum. Erst mit dem stetig zunehmenden Alkoholkonsum wird die Runde allmählich ausgelassener, die Lacher lauter, die Stimmung gelöster. Sogar Marks Humor wird besser, zumindest wirkt es so.

Wie immer fühlt sich Nita nur bedingt wohl, kommt sich vor wie ein Fremdkörper, doch die Tatsache, dass auch Lisa, die ihr schräg gegenüber sitzt, so wirkt, als würde sie sich nicht sonderlich zugehörig fühlen, ist Nita zumindest ein kleiner Trost. Sie beobachtet Lisa, mustert ihre Gesichtszüge, die sich keineswegs zu klassischer Grazie vermengen, sondern eher außergewöhnliche Wege beschreiten. Das Kinn ist relativ schmal, die Wangenknochen dehnen das Gesicht derweil in die Breite, und die Kieferknochen bemühen sich, eine stimmige Verbindung zu schaffen. Auch die Augen sitzen ungewohnt weit auseinander, und dennoch erkennt Nita in Lisas Gesicht eine seltene Anmut, eine nahezu rohe Schönheit. Noch faszinierender als ihr Gesicht ist jedoch der Blick. Wenn Lisa in die Welt schaut, tut sie es mit Augen, die zutiefst dunkel sind, beinahe schwarz wirken. Und womöglich ist es einzig und allein diese Schwärze, die den Augen eine ungeahnte Tiefe verleiht. Nita ist dennoch fasziniert.

Sie weiß nicht, wie lange sie Lisa bereits angestarrt hat, als sie bemerkt, dass Lisa ihrerseits längst nicht mehr auf die heitere Runde blickt, sondern sie direkt anschaut. Nita zuckt zusammen und wendet ihren Blick ab, mustert ihr Weinglas vor ihr auf dem Tisch, die Fingerabdrücke, die sie hinterlassen hat. Als sie wieder zu Lisa sieht, hat diese ihren Augen scheinbar nicht bewegt und blickt noch immer in ihre Richtung, nun begleitet von einem sanften Lächeln. Nita versucht ebenfalls zu lächeln, ohne zu wissen, wie gut es ihr gelingt. Dann gibt Alex die nächste Runde aus, und Nita hebt beinahe mechanisch ihr leeres Weinglas.

Zwei Stunden später verabschieden sich Evelyn und Lars, bald darauf auch Emma, Mark und Stephanie. Zunächst bleiben Alex, Lisa und Nita in der Tiger-Bar sitzen, doch die dröhnende Musik und die immer zahlreicheren und lauteren Gäste machen eine normale Unterhaltung nahezu unmöglich. Nita schlägt vor, noch kurz das Hinterzimmer aufzusuchen, eine kleine Kneipe am Stadtrand. Sie ist noch nicht müde und noch nicht betrunken genug, um bereits nach Hause zu gehen.

Im Hinterzimmer ist es bedeutend ruhiger. Die Geräuschkulisse ist gedämpft, es läuft langsame, beinahe jazzige Musik mit spanischem Gesang, die anwesenden Gäste an den Tischen scheinen in intensive Gespräche verwickelt. Sie setzen sich an den letzten freien Tisch, und Nita holt bei Theo an der Bar eine Flasche Wein und drei Gläser.

«Ist schön hier», sagt Lisa, und in dieser Atmosphäre klingt ihre Stimme anders, tiefer, wärmer.

«Ja», gibt Nita zurück. «Leicht schmuddelig, ein wenig alternativ, aber warm, irgendwie.»

«Ich glaube, ich war schon einmal hier», sagt Alex leise, nachdem er sich in den ersten Minuten im Hinterzimmer noch äußerst schweigsam gezeigt hat. «Sicher bin ich mir aber nicht. Wahrscheinlich war ich betrunken, da entgleiten mir manchmal die Details. Na ja, hin und wieder auch mehr als nur die Details.»

Die sonst so ebenmäßigen Gesichtszüge von Alex verschieben sich zu einem schiefen Grinsen, das ganz offensichtlich nicht nur von freudigen Erinnerungen erzählt. Lisa blickt ihn an und legt ihren Kopf ein wenig schräg, sagt aber nichts.

«Hattest du einen Blackout?», will Nita wissen. Alex zuckt mit den Schultern.

«An jenem Abend, an dem ich vielleicht hier war, wohl eher nicht.»

«Aber in anderen Situationen?», fragt Lisa. Alex zuckt erneut mit den Schultern, starrt auf den Tisch und knetet seine linke Hand mit den Fingern seiner rechten Hand.

«Ja, wahrscheinlich schon.»

«Keine schönen Situationen?»

«Nein, keine schönen Situationen.»

«Du musst nicht darüber reden, wenn es dir unangenehm ist», erklärt Lisa.

«Es ist mir unangenehm. Mehr als das.» Alex hält inne, hebt seinen Blick und blickt zu Lisa, dann zu Nita, dann wieder auf die Tischplatte. «Aber ich müsste wohl darüber reden. Häufiger darüber reden.»

«Wir hören zu», versichert Lisa.

«Wenn du willst», fügt Nita an und blickt zu Lisa. Sie lächelt und nickt Nita zu, und Nita ist verwundert über die Wärme, die in ihr aufsteigt. In der kleinen Runde spürt sie eine Nähe, die zuvor nicht erkennbar gewesen ist, sie nimmt sich selbst nicht mehr als Außenstehende wahr, sondern als Teil eines Ganzen, als Teil von etwas Wertvollem. Sie füllt die drei Gläser auf, bestellt bei Theo eine weitere Flasche Wein. Dann beginnt Alex zu erzählen.

«Ich war an jenem Abend im Rouge. Vielleicht kennt ihr es. Ist eine Schwulenbar. War aber nicht sonderlich toll an jenem Abend, war beinahe leer. Ich habe nur ein Bier getrunken und bin dann wieder gegangen. Kaum hatte ich das Rouge verlassen, kam eine Gruppe Männer auf mich zu, vielleicht fünf oder sechs. Einige hatten Glatzen, sie trugen schwarze Jacken und schwere Stiefel. Einer fragte mich nach Feuer, doch ich gab zurück, dass ich nicht rauche. Aber blasen tust du?, sagte ein anderer. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und ging möglichst normal weiter. Sie gingen mir hinterher, stets ein paar Meter hinter mir. Als ich meine Schritte beschleunigte, gingen auch sie schneller. Sie riefen mir immer wieder Dinge hinterher. Schwule Sau, Homo, solche Sachen. Irgendwann begann ich zu rennen. Natürlich rannten sie auch, ich kam nicht weg. Irgendwann hat mir wohl einer von ihnen von hinten in die Beine getreten, jedenfalls fiel ich hin, irgendwo in einer dunklen Gasse. Schon als ich am Boden lag, wusste ich, dass es nicht gut ausgehen würde. Ich hob die Arme an den Kopf, dann kamen die ersten Tritte.»

Alex hebt sein Weinglas hoch, und Nita hätte eigentlich erwartet, dass seine Hand zittern würde. Doch stattdessen wirkt der Arm beinahe steif, die Fingerknöchel sind weiß. Sie überlegt einen Moment lang, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, doch nachdem er einen großen Schluck Wein getrunken hat, räuspert er sich und redet weiter.

«Keine Ahnung, wie lange es gedauert hat. Irgendwann habe ich die Tritte gar nicht mehr gespürt. Ich habe mich in einen Raum in meinem Innern verkrochen, in den sie nicht eindringen konnten. Diesen Raum, ich kenne ihn gut, er hat mich schon einige Male gerettet. Irgendwann ließen die Männer von mir ab und liefen johlend weg. Kurze Zeit später standen einige Leute neben mir, halfen mir hoch, stützten mich. Einer von ihnen fragte, ob er die Polizei oder den Notarzt rufen solle, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich mochte keine Fragen beantworten, mochte auch niemandem die Verletzungen an meinem Körper zeigen. Ich wollte einfach verschwinden. Als mich die Leute losließen, bedankte ich mich kurz und ging möglichst schnell weg.»

Nita überlegt nicht mehr, sondern legt Alex ihre Hand auf die Schulter, knetet sanft den harten Muskel. Er lächelt gequält und blickt sie an. Sie weiß nicht, ob sie etwas sagen sollte, sie weiß nicht, was sie sagen soll.

«Es tut mir so leid für dich», flüstert sie vorsichtig.

«Die Schläge waren gar nicht so schlimm», gibt Alex zurück und hebt kurz die Hände. «Ein paar blaue Flecken, eine Prellung am Rücken, mehr nicht. Vielleicht haben die Arschlöcher nicht so heftig zugetreten, keine Ahnung. Die Dinge, die sie mir nachgerufen haben, taten wohl mehr weh. Vor allem länger. Aber auch das war nicht so schlimm. Ich kenne diese Sprüche, kannte sie schon damals viel zu gut. Irgendwann härtet man ab.»

«Aber trotzdem bleiben Wunden zurück», sagt Lisa, die bisher stumm geblieben ist. «Und manchmal merkt man erst später, wie tief diese Wunden sind.»

«Kann sein, ja», meint Alex. «Doch an jenem Abend sollte das Schlimmste erst noch kommen.»

Nita und Lisa sehen sich an, wenden sich dann wieder Alex zu.

«Was denn?», will Lisa nach einem leisen Räuspern wissen. Alex verschiebt abermals die Gesichtszüge, dann entschuldigt er sich und geht zur Toilette.

«Scheiße», flüstert Nita und greift nach ihrem Weinglas.

«Kannst du laut sagen», gibt Lisa zurück.

«Was sagt man da?»

«Keine Ahnung», antwortet Lisa. «Die richtigen Worte gibt‘s wahrscheinlich nicht. Vielleicht muss man gar nicht viel sagen. Vor allem zuhören.»

Nita blickt Lisa an und bemerkt, wie ihre dunklen Augen noch größer und tiefer wirken als zuvor. Sie will noch etwas anfügen, doch dann kommt Alex zurück, setzt sich wieder hin und verschränkt seine Arme.

«Und, seid ihr bereit für Pointe?», fragt er mit gespieltem Übermut. Er leert sein Weinglas, und während Lisa es nachfüllt, redet er weiter, die Augen auf die Tischplatte gerichtet.

«Nach dem Zwischenfall mit den Nazi-Arschlöchern – oder was auch immer sie waren – ging ich ziemlich ziellos durch die Stadt. Ich weiß nicht, woran ich dachte. Wahrscheinlich dachte ich an nichts. Ich hatte Angst, aber ich wollte noch nicht nach Hause, ich weinte, aber ich mochte nicht traurig sein. Irgendwann kam ich am Bunker vorbei. Ebenfalls eine Schwulenbar. Ich mag sie nicht sonderlich, gehe eigentlich nie hin, aber an jenem Abend schien es mir wohl eine gute Idee zu sein, dort noch etwas trinken zu gehen. Na ja. Ich trank ein Bier, dann noch eins, dann Whisky. Mit jedem Schluck fiel ein wenig Scham von mir ab, und das tat gut. Irgendwann saß ein Typ neben mir, groß wie ein Bär, mit tätowierten Armen. Ich mag solche Männer eigentlich nicht, sie schüchtern mich ein, machen mir Angst. Wahrscheinlich war ich schon zu betrunken, um noch Angst zu haben. Ich habe keine Ahnung, worüber wir redeten, ich weiß auch nicht, wie er hieß. Ich trank weiterhin, bis ich mich kaum mehr auf dem Hocker halten konnte.»

Alex verstummt, sieht sich im Hinterzimmer um, als würde er befürchten, dass er beobachtet oder belauscht wird. Er fixiert wieder seinen bewährten Punkt auf dem Tisch und fährt fort.

«Wahrscheinlich ging ich freiwillig mit, vielleicht war es sogar meine Idee, ich weiß es nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, wie ich zu seiner Wohnung gelangt bin. Sie war dunkel, die Wohnung, obwohl das Licht brannte. Ich erinnere mich, dass ich zur Toilette ging und mich übergeben musste. Womöglich haben wir noch etwas getrunken, ich bin mir nicht mehr sicher. Was dann geschah, weiß ich aber genau. Irgendwann lag ich auf seinem Bett, mit dem Gesicht nach unten, und er zerrte an meinen Kleidern. Ich wehrte mich, versuchte es zumindest, doch wahrscheinlich fehlte mir die Kraft, und eben, er war groß wie ein Bär. Er zerriss meine Unterhose, und dann drang er in mich ein. Ich kann gut damit umgehen, wenn es etwas heftiger wird, manchmal mag ich das sogar. Aber das war nur Gewalt, es tat einfach nur weh. Ich wollte schreien, doch er hielt mir den Mund zu. Ich versuchte, ihn zu beißen, doch er drehte meinen Kopf zur Seite, bis ich glaubte, mein Hals würde brechen. Er machte weiter, noch grober als zuvor, und irgendwann gab ich nach, wehrte mich nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich mich in diesen Raum in meinem Innern verkriechen wollte, in den niemand eindringen konnte, doch ich fand ihn nicht. Ich konnte nicht weg, lag einfach da, unter ihm. Keine Ahnung, wie lange es dauerte. Irgendwann ließ er von mir ab und ging aus dem Zimmer. Ich blieb liegen, konnte mich kaum regen, mir schien, als wäre mein ganzer Körper betäubt. Kurze Zeit später kam er zurück, zog mir die Kleidung wieder an und schleifte mich wie einen großen Sack aus der Wohnung. Draußen auf dem Gehsteig ließ er mich liegen. Irgendwann hielt ein Taxi an, und ich stieg ein. Ich habe keine Ahnung, ob er das Taxi gerufen hat oder ob es einfach zufällig da war. Schließlich war ich zu Hause, übergab mich nochmals und schlief im Badezimmer auf dem Boden ein. Ich glaube, mit der Kotze verschwanden wohl auch beträchtliche Mengen an Stolz und Selbstwert in der Kanalisation.»

Dann verstummt Alex, und Nita hat den Eindruck, erst jetzt wieder zu atmen. Einige Muskeln im Gesicht von Alex zucken leicht, er schluckt etwas herunter, dann setzt er ein weiteres Mal sein gequältes Lächeln auf. Nita blickt Lisa an, wie sie Alex anschaut, und Nita findet sie noch schöner als zuvor.

«Scheiße», sagt Lisa leise.

«Ja», gibt Alex zurück. «Irgendwie schon.» Dann drückt er seinen Rücken durch, reibt mit seinen Handflächen über sein Gesicht.

«Ich wollte euch nicht den Abend verderben. Tut mir leid.»

«Hör auf», protestiert Lisa. «Ich bin froh, dass du es uns erzählt hast. Und ich danke dir für das Vertrauen.»

«Ja, es ist gut, dass du darüber geredet hast», sagt Nita nickend. «Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun.»

«Du hast schon was getan. Ihr habt was getan. Ihr habt zugehört. Es tut weh, darüber zu reden. Aber es ist nötig. Und es ist gut, wenn jemand zuhört. Danke, dass ihr zugehört habt.»

Ein wenig ungelenk steht Alex auf und bittet sie um Verständnis, dass er nicht mehr länger bleiben wolle. Dann verabschiedet er sich und verlässt das Hinterzimmer.

«Ich verstehe ihn. Irgendwie», murmelt Lisa, nachdem sie einige Minuten lang schweigend nebeneinander gesessen sind. «Ich kenne diesen Raum im Innern, in den man sich verkriechen kann. Ich kenne diese unerträgliche Scham. Diese verdammte Kleinheit, wenn man darüber redet. Und die Tatsache, dass es nicht geht, ohne dass man darüber redet.»

Nita nickt, ohne genau zu wissen, warum sie nickt.

«Ja, geht mir ähnlich», sagt sie vorsichtig. «Ist bei dir… Also… Ist dir etwas zugestoßen? Tut mir leid, dass ich frage.»

«Muss dir nicht leid tun, Nita.»

Nita zuckt zusammen, als sie ihren Namen aus Lisas Mund hört. Sie füllt die beiden verbleibenden Weingläser, um Lisas Blick vorübergehend ausweichen zu können.

«Als ich dreizehn Jahre alt war, hat mich mein Bruder vergewaltigt.»

Erschrocken sieht sie Lisa an. Nita spürt, wie sich ihr Mund öffnet. Sie sucht nach Wörtern, die sie entweichen  lassen könnte, irgendetwas Sinnvolles, etwas Passendes, etwas Wertvolles, doch ihr fällt nichts ein. Als Lisa sich räuspert, gelingt es Nita endlich, den Mund wieder zu schließen.

Lisa erzählt mit ungewohnt monotoner Stimme von jenem Abend, als ihre Eltern für einige Tage verreist waren und sie und ihr Bruder vor dem Fernseher saßen. Ihr Bruder, fünf Jahre älter, fragte sie, wie viel sie über Sex wisse. Er holte eine Videokassette aus seinem Zimmer und legte sie ein. Es war ein Pornofilm, und Lisa war durchaus angeekelt, aber auch ein wenig fasziniert. Sie starrte auf den Bildschirm, verwirrt und beschämt, weil ihr Bruder neben ihr saß. Er schien sich gut zu unterhalten, grinste hin und wieder, stupste Lisa ein wenig. Irgendwann begann er, Lisa zu kitzeln, und zu Beginn fand sie es wohl auch lustig, obwohl sein Verhalten ihr sehr ungewohnt und merkwürdig schien, außerdem fühlte sie sich verletzlicher als sonst, weil sie lediglich ein Nachthemd trug, das eigentlich nur ein langes T-Shirt war.

Als er eine ihrer Brüste berührte, glaubte Lisa zunächst an ein Versehen. Doch wenige Sekunden später griff ihr Bruder ihr erneut an die Brüste, mit der flachen Hand und zweifellos mit Absicht. Einen Moment lang hielt er inne, blickte Lisa an, mit einem Blick, dessen Kälte ihr nie zuvor aufgefallen war. Sie wollte etwas sagen, doch er stieß sie nach hinten, schob mit einer Hand ihr langes Shirt nach oben und griff ihr mit der anderen Hand zwischen die Beine. Danach folgte, was Lisa als Erschütterung bezeichnete. Nichts in ihrem Leben habe auch nur ansatzweise die gleiche zerstörerischer Kraft gehabt wie jene Minuten, in denen ihr Bruder sich gewaltvoll an ihr verging. Während sie die Ereignisse schildert, stockt ihre Stimme immer wieder, sie kaut auf ihrer Unterlippe und reibt ihre Finger aneinander. Bisweilen wirft sie Nita kurze Blicke zu, starrt dann aber sofort wieder auf die Tischplatte, an den gleichen Punkt, den zuvor schon Alex fixiert hatte.

Seither war jener Abend der Mittelpunkt ihres Daseins. Es gab ein Davor, es gab ein Danach, doch alles zielte darauf ab, ohne dass sie etwas daran ändern konnte. Jede Liebe, die sie empfand, jede Angst, jede Hoffnung, jede Sorge, alles stand zumindest in indirekten Kontext zu jener Erschütterung. Und selbst heute, beinahe zwanzig Jahre später, spürt sie die Risse, die damals entstanden sind.

«Ich bin lange Zeit in therapeutischer Behandlung gewesen», sagt Lisa, als Nita wissen will, ob sie mit anderen Menschen darüber hatte reden können. «Das hat mich gerettet, denke ich. Die Therapeutin wusste ziemlich gut, wie sie mit mir umgehen musste.»

«Und deine Eltern?», fragt Nita vorsichtig.

«Ich habe ihnen nie davon erzählt. Als dann beide kurz nacheinander starben, bereute ich es. Ich wollte sie schonen, vor allem meine Mutter, verstehst du? Doch eigentlich hätten sie es wissen müssen.»

«Und was ist mit deinem Bruder?», will Nita wissen. Ihr fällt auf, dass Lisa den Namen ihres Bruders kein einziges Mal genannt hat.

«Wir haben einmal darüber gesprochen, Jahre später. Zunächst hat er es geleugnet, dann hat er es verharmlost. Schließlich hat er sich dafür entschuldigt. Ganz lapidar, etwa so, wie man sich entschuldigt, wenn man einen Geburtstag vergisst. Ich habe seit vier oder fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.»

«Wolltest du nie zur Polizei gehen? Oder jemanden informieren?»

«Nein. Oder doch, immer wieder. Aber es hätte ja nichts geändert. Die Erschütterung blieb. So oder so.»

Als Lisa zu Ende erzählt hat, legt Nita ihre Hand auf Lisas Unterarm und drückt sanft zu. Etwas anderes vermag sie nicht zu tun, die Suche nach den richtigen Worten tritt sie gar nicht erst an. Sie streichelt Lisas Finger und sieht sie an. Lisa lächelt. Nicht gequält wie Alex, sondern entspannt, vielleicht beruhigt, vielleicht dankbar, vielleicht auch lediglich müde. Dann bewegt sie ihren Arm zur Seite und trinkt ihr Weinglas leer. Lisa steht auf und geht zur Toilette.

Während sie alleine am Tisch sitzt, überlegt Nita, was sie sagen soll, wenn Lisa sie fragt, was ihr zugestoßen sei. Worüber sie reden soll, welchen Schmerz sie beschreiben soll. Natürlich kennt sie die Narben in ihrem Innern, natürlich sind da die kleinen und großen Geschichten, die sie geprägt haben. Sie denkt an die Entbehrungen und Verletzungen, doch jeder Gedanke, den sie im Kopf wälzt, verblasst in Anbetracht der Dinge, die Alex und Lisa erzählt haben. Da ist ein unangenehmer Zwischenfall mit Thom, einem Ex-Freund, eigentlich zwei Zwischenfälle, in denen er energisch oder beinahe gewaltsam versucht hatte, mit ihr zu schlafen, doch sie hatte sich beide Male erfolgreich wehren können und ihn nach dem zweiten Mal nicht mehr gesehen. Das war unschön, fürchterlich, es war prägend und hinterließ Wunden, die nur zaghaft heilten, aber trotzdem, da sind keine Vergewaltigungen, da ist nur wenig Gewalt. Und eigentlich wäre dies Anlass, um glücklich zu sein. Stattdessen drückt Nita den Fingernagel ihres Daumens tief in die Haut ihres anderen Armes, um wenigstens im Moment ein wenig Schmerz zu spüren.

Sie sieht, wie Lisa von der Toilette zurückkommt und noch zur Bar geht. Nita beobachtet sie, folgt den Linien ihres Körpers, den Hüften, die weitaus weniger schmal sind als ihre eigenen, aber dennoch attraktiver wirken, vollkommen. Lisa trägt ein dunkles Kleid, darunter schwarze Strümpfe, und Nita wünscht sich, in solchen Kleidern zumindest annähernd so gut auszusehen wie Lisa. Sie fragt sich, wie Lisa ohne Kleider aussehen mag, und denkt gleich danach an die Vergewaltigung durch ihren Bruder. Der Kontrast verunsichert sie, und Nita kneift erneut in die Haut an ihrem Unterarm.

«So», sagt Lisa, als sie sich wieder hinsetzt und zwei Tassen auf den Tisch stellt. «Ich glaube, Wein hatten wir genug, nicht wahr? Magst du Kräutertee?»

Nita nickt, obwohl sie keine begeisterte Teetrinkerin ist. Sie nippt an der Tasse, blickt sich im Hinterzimmer um, das sich allmählich leert. An der Wand hängen unzählige Plakate. Der Aufstand beginnt jetzt, steht auf einem dieser Plakate geschrieben, es geht um eine Demonstration, die aber längst Vergangenheit ist.

«Hast du mitbekommen, dass der Aufstand begonnen hat?», fragt Nita und deutet auf das Plakat. Lisa liest das Geschriebene und lacht dann ein tiefes, nahezu gurgelndes Lachen.

«Habe ich verpasst.»

«Ich auch.»

Lisa blickt ihr in die Augen, und Nita ahnt bereits, welche Frage sie stellen wird.

«Willst du erzählen?»

Nita zuckt mit den Schultern.

«Es gibt nicht allzu viel zu erzählen.»

«Ich glaube schon.»

«Na ja», beginnt Nita zögerlich. «Was soll ich sagen? Bei mir war es nicht der Bruder. Bei mir war es ein Freund. Ein eigentlich platonischer Freund, zumindest dachte ich das. Er dachte etwas anderes. Und einmal, als wir beide ziemlich betrunken waren, hat er mich vergewaltigt.»

Lisa legt ihren Kopf ein wenig schräg, und Nita wundert sich, ob Lisa jegliches Nachfragen sein lassen würde, wenn Nita sie einfach umarmen und an sich drücken würde. Sie tut es nicht, und Lisa fragt nach.

«Es gibt wirklich nicht viel zu erzählen. Er wohnte bei seinen Eltern, doch die waren übers Wochenende weggefahren. Wir tranken Wodka, schauten uns Filme an, und irgendwann schlief ich wohl ein. Als ich wieder erwachte, hatte er mir bereits die Jeans ausgezogen und fummelte an meinem BH. Ich wehrte mich, doch er drückte mich nach unten, hielt meine Arme fest. Ich glaube, er kam schon, bevor er in mich eindringen konnte. Das hat ihn wütend gemacht, und er hat mir eine Ohrfeige gegeben. Ich bin dann aufgestanden und aus dem Haus gerannt, direkt nach Hause. Ich habe nie jemandem davon erzählt.»

Lisa blickt sie an, nippt an ihrer Teetasse und stellt sie wieder hin. Nita hat den Eindruck, dass Lisa an ihren Worten zweifelt, und sie bereut, dass sie überhaupt dazu hat hinreißen lassen, diese Geschichte zu fabrizieren. Einen Moment lang ist sie geneigt, ihre Erzählung abzubrechen und zuzugeben, dass sie nicht der Wahrheit entspricht. Doch sie schafft es nicht, der Mut fehlt.

«Weißt du, was mich am meisten erschüttert hat?», flüstert Nita leise, ohne eine Antwort abzuwarten. «Dass ich mir danach Vorwürfe machte. Dass ich mir die Schuld gab, dass er zu früh gekommen war. Ich fühlte mich schmutzig, und gleichzeitig fühlte ich mich schuldig. Erst mit den Jahren konnte ich die Schuld ablegen. Der Schmutz jedoch, der Schmutz blieb.»

Nachdem sie das Hinterzimmer verlassen haben, stehen sie vor dem Gebäude. Nita muss nach links, Lisa muss nach rechts. Nita sehnt sich danach, noch etwas zu sagen, etwas Bedeutsames, etwas Tiefgründiges, etwas, das Lisa auf ihrem Weg nach Hause begleiten möge. Doch ihr fällt nichts ein.

«Das war ein schöner Abend», sagt Nita leise.

«Ja. Sehr lustig, sehr traurig, sehr schön, sehr echt.»

«Müssen wir bald mal wiederholen», findet Nita, während das Wort echt noch hartnäckig in ihren Ohren hängt und nachhallt.

Als sie sich umarmen, spürt Nita den warmen Körper von Lisa, ihre Brüste, die kleinen Erhebungen an ihrem Rücken. Sie möchte die Zeit noch ein wenig dehnen, möchte nicht loslassen, tut es aber dennoch. Lisa lächelt sie an, Nita lächelt zurück. Dann wenden sie sich voneinander ab und gehen auseinander. Nach einigen Sekunden blickt sich Nita nochmals um, doch Lisa ist bereits aus dem Blickfeld verschwunden.

Während Nita nach Hause geht, überlegt sie, ob es richtig oder falsch war, die Unwahrheit zu sagen. Ob sich Lisa in ihren Augen verändert hat, nachdem sie ihre Erlebnisse geschildert hat. Sie fragt sich, wie Lisa wohl über sie denkt, was sie von ihr hält. Obwohl sie es durchaus schätzt, wenn sie gemocht wird, verspürt sie selten das Bedürfnis, anderen Menschen um jeden Preis gefallen zu müssen. Bei Lisa ist ihr das Bild, das Nita in die Welt zeichnet, jedoch ungewohnt wichtig. Es geht ihr nicht um Perfektion, sie will keinen tadellosen Eindruck hinterlassen. Sie will wahrhaftig sein, will echt sein, so echt, wie Lisa es ist. Als sie von jenem fürchterlichen Erlebnis mit ihrem Bruder erzählte, war Nita aufrichtig schockiert. Doch gleichzeitig breitete sich in ihr auch eine seltsame Euphorie aus, eine tiefe Dankbarkeit, dass sich Lisa ihr anvertraute. Auch das war wohl eine Art der Erschütterung, wenn auch eine wunderbare Erschütterung, eine Erschütterung, der Schrecken und Angst vollkommen fremd waren.

Sie blickt nach oben. Der Mond versteckt sich hinter locker hingestreuten Wolken, lässt den Himmel aussehen wie das Fell einer Raubkatze. Nita zündet sich eine Zigarette an und geht ein wenig schneller.

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2 replies to “Kapitel 12: Dass Lisa ihr von einer Erschütterung erzählt, sorgt bei Nita ebenfalls für eine Erschütterung. (Juni 2015)

  1. Als ich noch viel, viel jünger war, habe ich immer gesagt, dass ich zwei Dinge nie erleben wollte: Vergewaltigt zu werden und im Gefängnis zu sein.
    Mein Wunsch wurde erhört – und jetzt bin ich wohl aus dem Alter raus, dass das noch passieren wird – hoffe ich jedenfalls.
    Es war schrecklich zu lesen. Und auch jetzt ist in Deutschland immer noch unterschwellig Ablehnung gegen Schwule zu spüren. Das ändern auch keine schwulen Politiker.

    Gefällt 1 Person

    1. Ich bin sehr froh, dass du die beiden Horrordinge niemals erleben musstest… Ja, die Ablehnung ist vielerorts da, bisweilen gar nicht so unterschwellig. Einiges hat sich zwar getan im Lauf der Jahrzehnte, aber es ist noch ein weiter Weg, bis sich nichts mehr ändern muss…
      Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!

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