Kapitel 38: Nita wundert sich, ob in jenem alten Haus noch jemand wohnt. (Juni 1991)

Sie kennt das Haus. Jeder kennt das Haus. Es liegt auf dem Schulweg der meisten Kinder, in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Ein hoher Metallzaun zieht sich um das Grundstück, geht auf der hinteren Seite in eine ebenso hohe Mauer über. Zwischen dem Zaun und dem Haus wuchern Gräser und andere Pflanzen, stachlige Sträucher schlagen aus. Einige Steinplatten bilden eine rechteckige Fläche, auf der ein alter Metalltisch vor sich hin rostet. Stühle sind keine zu sehen.

«Weißt du, Anita, am besten gehst du schnell am Haus vorbei», pflegt ihre Mutter zu sagen. «Schau einfach nicht hin.»

«Wohnt denn da jemand drin?»

«Ich glaube nicht.»

«Aber es gehört jemandem, oder? Es muss doch jemandem gehören, Mama.»

«Früher lebte eine merkwürdige alte Frau dort. Ich weiß nicht, wie sie hieß. Aber sie müsste längst tot sein. Sie war schon alt, als ich noch jung war.»

Ihre Mutter spricht selten über jene Zeit, in der sie noch eine junge Frau war. Wenn sie von früher erzählt, dann meistens von ihren Kindheitsjahren, über den Vater, der früh starb und über ihre beiden älteren Brüder, die sich unterschiedlich gut in die Rolle der Männer im Haushalt fügten. Die Zeit zwischen dem Auszug aus dem zunehmend stiller werdenden Elternhaus und ihrem Zusammentreffen mit Anitas und Martins Vater bleibt in ihren Erzählungen jedoch stets ausgeklammert. Entweder hat sich in jenen Jahren nichts ereignet, über das es sich zu reden lohnt. Oder es sind Dinge geschehen, über die sie nicht reden wollte. Anita hatte nur selten den Eindruck, dass da etwas fehlte.

«Bist du schon mal drin gewesen?», will sie von ihrer Mutter wissen.

«Wo? In jenem Haus?»

«Ja.»

«Nein, noch nie. Warum auch?»

«Wolltest du denn nie wissen, wie es da drin aussieht?»

«Nein. Es ist bestimmt ganz schmutzig und staubig. Wahrscheinlich wohnen da jetzt Mäuse, Ratten und Spinnen. Da würde es mir nicht gefallen.»

«Aber jemand muss doch hineingehen und nachsehen, oder nicht?»

«Irgendwann wird das sicher jemand tun», erwidert die Mutter. «Doch bis dahin ist es besser, wenn man einfach daran vorbeigeht und nicht hinschaut.»

«Ich würde aber gerne wissen, wie es drinnen aussieht. Ich denke immer wieder daran.»

«Streiche diesen Gedanken wieder aus deinem Kopf, Anita. Wenn man zu oft an etwas denkt, wird es häufig viel zu groß, viel größer als nötig.»

«Aber Mama…»

«Was denn?»

«Nichts.»

Sie stellt sich vor, wie die merkwürdige alte Frau ausgesehen haben könnte, die das Haus bewohnt hat. Wenn sie sich merkwürdige alte Frauen ausmalt, sind sie stets klein und grauhaarig, tragen schwarze Kleider und schwere Schuhe, und meistens wirken sie so, als ob sie keinen Hals hätten, der Kopf hängt tief und schwer zwischen den Schultern. In ihren Gedanken tritt die alte Frau aus dem Haus, steigt die drei Stufen hinunter und geht durch ihren verwilderten Garten, sieht sich um und murmelt unverständliche Worte. Hin und wieder lacht sie auf, und dieses Lachen klingt krächzend, beinahe metallisch. Anita zuckt dann meistens zusammen und klammert sich an einen Stuhl, einen Tisch oder etwas anderes, das gerade in ihrer Nähe steht.

Anita ist schon einige Male vor dem Grundstück stehengeblieben, hat durch die Gitterstäbe des Eingangstores auf das Haus geblickt. Hinter den kleinen Fenstern hängen Vorhänge, ansonsten kann man nichts erkennen. An einer Stelle scheint der Vorhang ein wenig schräg, es wirkt so, als hätte ihn jemand zurückziehen wollen und wäre mitten im Versuch unterbrochen worden. Anita starrt immer wieder auf die Stelle, doch der Vorhang hängt immer gleich schräg herab, bewegt sich nicht, bewegt sich nie. Überhaupt bewegt sich nichts im Haus oder am Haus. Nur eine Schnur, die an einer Ecke vom Dach herunterhängt, warum auch immer.

Einmal hatte sie ihren Vater gefragt, ob er etwas über das Haus erzählen könne. Er hatte geantwortet, dass sie ihre Mutter fragen solle, die wisse das sicher besser. Manchmal ist sich Anita nicht sicher, ob ihr Vater nicht doch ein wenig dumm ist. Doch eigentlich ist sie überzeugt davon, dass er nahezu alles weiß. Aber einfach nicht gerne darüber spricht. Vielleicht hat er Angst, dass er die Dinge, die in seinem Kopf und seinem Herzen sind, verlieren könnte, wenn sie durch seinen Mund entweichen. Gerade so, als wären seine Gedanken und Gefühle nur in seinem Innern gut aufgehoben. Und würden draußen in der Welt nicht überleben können.

Als sie an jenem Tag vor dem Haus stehen bleibt, rennen ihre Freundinnen und Freunde einfach weiter, bemerken vielleicht gar nicht, dass sie zurückbleibt. Anita wirft ihnen einen kurzen Blick nach, schaut dann aber wieder auf das alte Haus hinter dem wuchernden Gras. Es wirkt kleiner als sonst, beinahe wie ein Spielhaus. Als sie leicht am eisernen Tor zieht, spürt sie den Widerstand, es ist verschlossen, wie immer. Üblicherweise würde sie nun weitergehen, nach Hause, würde sich weiterhin fragen, wie es im Innern des Hauses aussieht. Doch heute verharrt sie. Bleibt kurz am Tor stehen. Dann geht sie den Eisenstangen entlang, bis sie in eine hohe Mauer übergehen. An der hinteren Ecke des Grundstückes hält sie inne. Direkt neben der Mauer steht ein Baum, und ein dicker Ast dieses Baumes reicht bis zur Mauer heran. Anita weiß das schon lange. Sie weiß, dass es keine bessere Stelle gibt als diese, um auf das Grundstück zu gelangen. Aber bisher hatte sie nie den Mut gehabt, tatsächlich hinüberzuklettern oder dies auch nur in Erwägung zu ziehen. Heute spürt sie, wie das, was ihr bisher im Weg stand, weggeräumt zu sein scheint. Sie fühlt sich zuversichtlich, unerschrocken, entschlossen, sie sieht die Mauer für einmal nicht als unüberwindbare Grenze, sondern als Herausforderung, als Aufgabe. Sie blickt dem Baumstamm empor zu den Ästen und überlegt sich, welcher Weg am besten geeignet wäre.

Sie war nie sonderlich mutig gewesen. Während andere Kinder auf einem dünnen Holzstamm einen reißenden Bach überquerten, ging sie lieber einen halben Kilometer bachaufwärts auf der Suche nach einer Brücke. Wenn es darum ging, mit dem Schlitten einen steilen und vereisten Hang hinunterzufahren, wartete sie zunächst ab, ging dann bis zur Mitte der Strecke zu Fuß und setzte sich erst dann auf den Schlitten, presste die Beine in den Schnee und bremste während der gesamten Fahrt. Auch deshalb ist das Haus etwas Besonderes. Denn von ihren Freundinnen und Freunden hatte niemand den Mut, um das Grundstück zu betreten. Niemand wagte es, allzu lange vor dem Tor stehenzubleiben. Anita spürt, dass sie – aus welchem Grund auch immer – ausnahmsweise mehr Mut hat, mehr Entschlossenheit, mehr Willenskraft. Für einmal ist sie es, die vorangeht, die den ersten Schritt macht. Und sie lässt sich nicht davon abhalten, dass niemand da ist, der ihr hätte folgen können.

Während sie um das Haus herumschleicht, blickt sie sich immer wieder vorsichtig um, ob gerade jemand daran vorübergeht, doch da ist niemand zu sehen und nichts zu hören, nur das ferne Rauschen der Landstraße und das Gurgeln des nahen Baches. Vor einem kleinen Fenster neben der Eingangstür bleibt Anita stehen und versucht, vorsichtig hineinzuspähen. Natürlich kann sie auch hier nichts erkennen, der Vorhang ist zugezogen und hinter dem Vorhang scheint ein weiteres Tuch zu hängen, das keine Blicke ins Innere des Hauses zulässt. Erneut schaut sie sich um, erneut ist niemand zu sehen.

Dass sie an die Tür klopft, entspringt gar nicht ihrer Absicht, und schnell hüpft sie die drei Stufen hinab und rennt um die Ecke, drückt sich an die Wand und hält ihren Atem an. Aufmerksam lauscht sie, ob im Haus etwas vor sich geht, doch sie hört nichts, weder Schritte noch andere Geräusche. Es bleibt still im Haus.

Eine Minute später steigt sie erneut die drei Stufen hinauf. Dieses Mal klopft sie nicht, sondern drückt vorsichtig die Klinke hinunter. Sie rechnet eigentlich mit Widerstand, mit dem gleichen Widerstand wie unten beim metallenen Tor, doch stattdessen geht die Türe knarrend auf. Sie tritt vorsichtig ein und schließt die Türe hinter sich.

«Hallo?», ruft sie und bereut es sofort, denn wenn jemand Antwort geben würde, wäre sie wohl so verängstigt, dass sie nicht einmal mehr in der Lage wäre, aus dem Haus zu rennen. Doch niemand antwortet, nichts geschieht. Anita geht langsam weiter. Als zum ersten Mal eine Diele im Boden knarrt, zuckt sie zusammen und verharrt. Doch mit jeder weiteren knarrenden Diele fühlt sie sich sicherer und ist allmählich überzeugt davon, dass sich abgesehen von ihr niemand im Haus befindet.

Das Tageslicht wird durch die Vorhänge und andere Tücher gebrochen und gelangt nur noch stark geschwächt ins Innere des Hauses. Anita betritt einen Raum, bei dem es sich offensichtlich um ein Wohnzimmer handelt. Von der Decke und den Wänden hängen Spinnweben, auf einer schmalen Kommode am Fenster sitzt grauer Staub, sogar die Luft wirkt staubig. Sie unterdrückt ein Husten. Schräg neben der Kommode steht eine Art Polsterbank, davor ein kleiner Tisch. Andere Möbel sind nicht zu sehen.

Anita erinnert sich an den Tag, an dem sie mit ihrer Schulklasse eine Ausstellung im historischen Museum besuchte. Unter anderem war dort ein altes Wohnhaus nachgebaut worden, um zu zeigen, wie einfache Menschen vor zweihundert oder dreihundert Jahren gelebt hatten, und dieses inszenierte Zimmer aus der Vergangenheit sah ziemlich ähnlich aus wie das Wohnzimmer, in welchem sie nun steht.

Sie fragt sich, wer hier gewohnt hat. Welche Gespräche hier geführt wurden. Was aus den Menschen geworden ist, die auf dieser kargen Polsterbank gesessen hatten. Wie haben sie gelebt? Wie sind sie gestorben? Während sie durch das kleine Wohnzimmer geht und kaum zu atmen wagt, wundert sich Anita, warum sie den Eindruck hat, gerade ein Geheimnis zu verraten.

Sie geht vorsichtig in das nächste Zimmer. Die Türe ist nur angelehnt, und nachdem Anita sie aufgeschoben hat, steht sie vor einem Bett. Das Licht in diesem Schlafzimmer ist noch schwächer als im Wohnzimmer, vor dem Fenster hängt ein dicker Vorhang, der nur einen Spalt breit geöffnet ist. Im diffusen Licht kann sie kaum etwas erkennen. Sie geht zum Fenster, schiebt den Vorhang zur Seite und erschrickt, wie schnell sich der Raum verwandelt und heller wird.

Auf den ersten Blick erzählt das Schlafzimmer die gleiche Geschichte wie das Wohnzimmer. Da ist die spärliche Einrichtung, da sind die fehlenden Bilder an den Wänden. Da sind die Spinnweben, da ist Staub auf einer kleinen Kommode, da ist die Luft, dick und staubig und alt. Sie fühlt sich, als wäre sie zu Besuch in einer fremden Zeit, einer längst vergangenen Zeit, aus der jegliches Leben entwichen ist.

Doch als sie das Bett näher betrachtet, gerät sie unvermittelt ins Stocken. Zwar ist auch die Kante der Bettrückwand mit einer dicken Staubschicht bedeckt, doch die Bettdecke passt nicht ins Bild. Sie liegt nicht museal und tot auf der Matratze, sondern ist aufgewühlt und ein wenig zur Seite geschlagen. Nichts an diesem Bett wirkt staubig oder leblos. Das Bett sieht aus wie ihr eigenes Bett. Es sieht aus wie ein Bett, in dem geschlafen wird, noch immer.

Als Anita bewusst wird, dass jenes Bett, vor dem sie steht, möglicherweise noch jede Nacht in Gebrauch ist, bemerkt sie, wie ein Rauschen in ihre Ohren steigt und ihr ein wenig schwindlig wird. Sie greift nach der Bettkante und ringt nach Luft, das Erschrecken lässt sie wanken. Sie widersteht dem Verlangen, überhastet aus dem Haus zu rennen, sondern nimmt sich vor, ganz langsam und vorsichtig wieder zu verschwinden.

Sie nähert sich der Tür zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer, als sie zusammenzuckt und den Atem anhält. Einen Moment lang redet sie sich ein, dass sie es sich nur eingebildet hat. Da war kein Geräusch, hört sie eine Stimme in ihrem Kopf sagen. Und wenn, dann war es wahrscheinlich nur das Knarren einer weiteren Diele unter ihren eigenen Füssen.

Einige Sekunden später hört sie es erneut. Es ist kein Knarren, auch kein Knacken im Gebälk. Es ist ein schleifendes Geräusch, als würde jemand etwas über den Boden ziehen. Einen Sack vielleicht. Oder einen Fuß.

Nachdem sich das Geräusch ein drittes, ein viertes Mal wiederholt hat, treibt die Panik Anita vorwärts. Sie rennt los, hin zur Haustür, doch sie findet sie zunächst nicht. Sie läuft weiter, immer hektischer auf der Suche nach dem Ausgang, doch hinter jeder Ecke tut sich lediglich ein neuer Raum auf. Nichts davon ist bekannt, nichts weist auf einen Ausweg hin, und jedes Fenster, das sie erblickt, wirkt kleiner und enger als jenes davor.

Hinter einer weiteren Tür drückt sich Anita an die Wand und bemüht sich vergeblich, ihren unbeherrschten Atem zu bändigen. Einen Augenblick lang glaubt sie, das Geräusch habe aufgehört. Doch dann ertönt es erneut, so laut und nah wie nie zuvor, beinahe so, als wäre es nur einige Schritte von ihr entfernt. Anita möchte sich in Luft auflösen, möchte verschwinden, doch es funktioniert nicht, sie bleibt einfach da, an jener Wand in jenem Haus, wie eine Gefangene.

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