EPILOG: Mahatma Gandhi, der Schrei, der Eiffelturm und die Morgensonne. (August 2016)

Mahatma Gandhi ist noch immer da, in seinem silberfarbenen Rahmen, unter seinem Gesicht mit der kleinen Brille das Zitat. Live as if you were to die tomorrow. Learn as if you were to live forever. Daneben hängt Der Schrei von Edvard Munch als Schwarz-Weiß-Lithografie. Darunter der Satz Ich fühlte das große Geschrei durch die Natur. Da ist der graue Ohrensessel, da ist die große Vase mit den trockenen Zweigen, da ist die Lampe mit dem weißen Stoffschirm, da ist die leicht geöffnete Schublade der hellbraunen Kommode. Der Raum wirkt wie ein Stillleben, ein Standbild aus einem alten Film, eine szenische Darstellung in einem Museum. Man hat nicht den Eindruck, dass sich in diesem Bild noch etwas verändern könnte.

Über einem kleinen Beistelltisch schwebt ein Ast, mit Schnüren an der Decke befestigt. An dem Ast sind wiederum Postkarten aufgehängt. Eine zeigt einen gekippten Eiffelturm, eine andere ein Bild von Edward Hopper. Auf einer weiteren Karte stehen in eleganter Handschrift einige Wörter geschrieben. Für Nita zum Geburtstag.

Auf dem Bild von Edward Hopper ist eine Frau zu sehen, die vor einem geöffneten Fenster auf einem Bett sitzt, die Sonne zeichnet Formen in den Raum. Die Frau hat die Beine angewinkelt und die Arme um die Knie gelegt. Da liegt eine Traurigkeit im Bild, eine Melancholie, wie in den meisten Werken von Edward Hopper. Auf der Rückseite der Karte ist in kleiner Handschrift ein Text zu lesen.

Liebste Nita

Vielleicht erinnerst du dich noch an dieses Bild von Hopper. Es heißt Morning Sun. Morgensonne. Für mich wird es immer dein Bild bleiben. Nicht nur, weil du wie die Morgensonne in meine Welt getreten bist, sie hell und warm gemacht hast. Da ist vor allem auch der Blick der Frau, die auf dem Gemälde auf dem Bett sitzt und aus dem Fenster schaut. Diesen Blick, ich kenne ihn, habe ihn immer wieder in deinen Augen gesehen. Die Traurigkeit, die Sehnsucht, dieses Flehen nach neuen Horizonten. Ich weiß noch immer nicht genau, was es ist , was dir so sehr fehlt, ich weiß auch nicht, wo und wie du danach suchen willst. Aber ich hoffe und wünsche dir, dass du es findest. Ich hätte dir gerne dabei geholfen, aber… Aber eben.

Du bist die Morgensonne. Ich hoffe, es wird ein schöner Tag.

Lisa

Auf der Karte sitzt die Frau regungslos auf dem Bett und schaut aus dem Fenster, sehnsuchtsvoll, melancholisch, während die Sonne ihr ins Gesicht scheint und den Raum mit geometrischen Formen verziert.

Der Raum, in welchem diese Karte hängt, wird ebenfalls von der Sonne beleuchtet, ein kleines helles Rechteck erstreckt sich über eine schmale Liege, die am Fenster steht. Auf dieser Liege könnte Nita eigentlich sitzen, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Knie gelegt, könnte aus dem Fenster schauen, hinaus in die Ferne. Doch Nita schaut nicht aus dem Fenster. Nita ist nicht da.

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