«Hugo, bist du da drin?», fragt Maria durch die geschlossene Badezimmertür, obwohl sie genau weiß, dass er nirgends anders sein könnte.
«Ja», hört sie nach einigen Sekunden seine dumpfe Antwort.
«Darf ich reinkommen?», ruft sie und drückt die Klinke herunter, doch die Tür ist verschlossen. «Aber… Warum hast du denn die Tür verriegelt?»
«Ich möchte ein bisschen Ruhe», erwidert Hugo, zumindest glaubt Maria, dass dies seine Worte sind. Sie lässt sich auf den alten Holzstuhl neben der Badezimmertür sinken und legt die Hände in den Schoss. Ihr Blick fällt auf die Wand gegenüber. Ein Bild hängt dort, zwei farbige Handabdrücke auf weißem Papier, daneben bunte Flecken, wild und kindlich. In der rechten unteren Ecke steht in krakeliger Schrift der Name Anita geschrieben. Sie kann sich noch erinnern, wie ihre Tochter ihr das Bild geschenkt hat. Sie hatte es in der Schule gemalt und wirkte seltsam unsicher, als sie es mitbrachte und Maria überreichte. Anita war kein unsicheres Kind, war ziemlich selbstbewusst und eigensinnig und laut. Doch in jenem Moment, mit dem bemalten Blatt Papier in der Hand, lag eine ungewohnte Schüchternheit in ihrer Körperhaltung. Beinahe so, als hätte sie Angst, ihr Bild könnte Maria nicht gefallen. Natürlich freute sich Maria über das Bild. Sie hatte sich immer über alles gefreut, was Anita tat. Obwohl sie nicht weiß, ob sie es auch immer gesagt und gezeigt hatte.
«Wie geht es dir?», fragt Maria durch die geschlossene Tür, doch abgesehen vom leisen Plätschern des Badewassers hört sie nichts, ganz bestimmt keine Antwort.
«Alles in Ordnung bei dir?»
Sein Grummeln deutet sie als Ja, zumindest ist es ein Lebenszeichen. Hugo war nie sonderlich kommunikativ, er hatte nie viel geredet, doch wenn er etwas sagte, hatte es Substanz. Maria mochte das an ihm. Vielleicht war das der Grund, noch mehr als alles andere, weshalb sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Diese Selbstsicherheit, die eben nicht tausende Worte brauchte, um sich zu manifestieren. Hugo konnte stundenlang schweigen. Doch wenn er danach etwas sagte, lag im Gesagten häufig so viel Gewicht, dass Maria glaubte, ein Kippen des Raumes wahrzunehmen.
«Weißt du noch, als Anita zum erstem Mal verliebt war?» Sie wartet seine Antwort gar nicht ab, redet unbeirrt weiter. «Sie war so durcheinander, wirkte häufig so verwirrt, so entrückt, beinahe so, als wären ihre Gedanken nicht am gleichen Ort wie ihr Körper. Wie alt war sie da? Zwölf? Und wie hieß der Junge damals? War das Philipp? Nein, Philipp kam später, nicht wahr? Nuno? War es Nuno? Ich mochte ihn. Ich war richtig traurig, als sich Anita von ihm trennte.»
Maria blickt auf die Hände in ihrem Schoss. Erst nach einigen Augenblicken erkennt sie, dass es ihre eigenen Hände sind, die vor ihr liegen. Sie bewegt die Finger, krümmt die Glieder. Dann führt sie eine Hand zu Nase, schnuppert daran, lässt sie wieder sinken.
«Ich liebte es, an ihren Haaren zu riechen. Weißt du noch, wie wunderbar ihre Haare geduftet haben, Hugo? Vor allem, wenn sie nass waren. Einmal kam sie vom Schwimmbad nach Hause. Ihre Haare waren noch feucht, und ich habe meine Nase an ihren Kopf gedrückt und eingeatmet. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas Wundervolleres gerochen habe.»
Sie steht auf und geht in die Küche, holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank, trinkt einen Schluck aus der Flasche und füllt sich dann ein Glas. Sie riecht am Wein, lächelt bitter und stellt die Flasche auf die Anrichte. Dann geht sie zurück zur Badezimmertür und setzt sich wieder auf den Stuhl.
«Fehlt sie dir auch so?», will Maria wissen.
«Maria», hört sie Hugo antworten, gefolgt von einem Plätschern.
«Was denn?»
«Hör auf.»
«Ich will doch nur darüber reden. Ich muss darüber reden, verstehst du? Sonst halte ich es nicht aus. Obwohl ich es auch nicht aushalte, wenn ich darüber rede.»
Hugo sagt nichts. Sie erachtet dies als stumme Einwilligung. Er erteilt ihr das Wort.
«Ich denke die ganze Zeit nur an sie», stammelt Maria mit matter Stimme. «Es vergeht kaum ein Moment, in welchem sie nicht in meinen Gedanken ist.»
Sie trinkt einen Schluck, hält das Weinglas gegen das Licht, betrachtet ihre Fingerabdrücke. Sie hinterlässt Spuren. Wir alle hinterlassen Spuren, denkt sie. Und fragt sich, warum sich die Spuren von Anita nicht finden lassen.
«Ich bin sicher, dass sie lebt. Dass es ihr gut geht. Ich weiß es, tief in mir drin. Ich kann geradezu spüren, wie du da drin in der Wanne deinen Kopf schüttelst, wenn ich das sage, aber eine Mutter spürt das. Ja, eine Mutter spürt das! Ich weiß, dass sie noch am Leben ist. Ich weiß es. Aber trotzdem ist da der Gedanke, dass es möglicherweise nicht so ist. Ich kann nicht sicher sagen, dass sie lebt, und die Möglichkeit, dass ihr etwas zugestoßen ist, sie ist zwar klein, aber sie besteht. Und sie bringt mich um den Schlaf. Irgendwann vielleicht auch um den Verstand.»
Maria steht auf, trinkt ihr Glas leer und geht erneut in die Küche, um es aufzufüllen. Am Kühlschrank hängt ein Zettel. Body Lotion kaufen, steht darauf geschrieben. Es ist Marias Handschrift. Der Zettel hängt schon seit Wochen am Kühlschrank, und sie war in dieser Zeit mehrere Male einkaufen. Doch es ist ihr nie gelungen, Body Lotion einzukaufen. Maria berührt den Zettel mit ihren Fingern, zieht ganz leicht daran, lässt ihn aber hängen. Body Lotion kaufen. Es wäre ganz einfach.
«Bist du eingeschlafen?», fragt Maria vorsichtig, nachdem sie sich wieder auf den Holzstuhl gesetzt hat. Hugo grummelt etwas, das ihr als Antwort genügt. Als sie sich vorstellt, wie er mit unzufriedenem Gesichtsausdruck im allmählich kälter werdenden Badewasser liegt, muss sie unweigerlich grinsen. Sie lacht nicht über ihn. Sie lacht mit ihm. Nur leider misslingt es ihm, in solchen Situationen zu lachen.
«Mir ist so kalt im Herzen. Dir wahrscheinlich auch, nehme ich an. Ich weiß, dass du dich bemühst. Dass du sie finden willst. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Doch manchmal frage ich mich, wie groß deine Sorgen sind. Du sprichst ja nicht wirklich oft darüber, doch wenn du es tust, dann klingt es manchmal so beiläufig. Manchmal, wenn du sagst, dass wir Anita finden müssen, klingt es genau so, wie wenn du sagst, dass wir die Glühbirne im Treppenhaus wechseln müssen. Ich weiß, ich tu dir Unrecht, aber so sehe und höre ich es eben. Hugo?»
Er gibt keine Antwort, doch das Plätschern des Wassers lässt darauf schließen, dass er sich relativ heftig bewegt hat in der Wanne.
«Ich bin am Ende», fährt sie fort, lässt den Kopf zunächst nach unten kippen und reißt ihn dann nach oben. «Ich kann nicht mehr. Ich will einfach, dass Anita wieder da ist. Ich halte es nicht mehr aus. Diese Ungewissheit. Manchmal denke ich mir, dass es besser wäre, zu wissen, dass sie tot ist, als nicht zu wissen, ob sie noch lebt. Verstehst du? Und wenn ich das denke, hasse ich mich dafür!»
Hugo murmelt etwas in der Wanne, aber sie versteht ihn nicht.
«Was hast du gesagt?», ruft sie durch die Tür. Hugo jedoch bleibt stumm. Nicht einmal das Plätschern des Wassers ist zu hören.
«Weißt du noch, als Anitas Katze starb? Es ist so lange her… Wann war das? Vor 25 Jahren? Ich bin mir nicht sicher. Aber ich weiß noch, wie ich reagiert habe. Anita lag am Morgen schlafend neben der Katze, lag wohl schon die ganze Nacht da, neben diesem toten Tier. Ich bin hingegangen, habe die Katze hochgehoben… Wie hieß die denn? Ein ganz merkwürdiger Name… Ich kann mich nicht mehr erinnern. Na ja, egal. Jedenfalls habe ich die tote Katze hochgehoben. Sie war ganz kalt und hart. Da ist Anita erwacht und hat mich angeblinzelt, mit ihren müden und traurigen Augen, doch ich habe kein Wort gesagt, bin einfach aus dem Zimmer gegangen, mit dieser kalten und harten Katze in den Händen. Ich habe sie zu dir gebracht, habe dir gesagt, du sollst sie entsorgen. Das hast du auch getan, glaube ich. Ach… Marie Curie! So hieß die Katze! Marie Curie! Ein fürchterlicher Name, aber Anita mochte ihn.»
Maria legt ihre Handfläche an die Stirn, als würde sie ihr Fieber fühlen wollen. Natürlich hat sie kein Fieber. Sie weiß nicht, wann sie zum letzten Mal Fieber hatte. Nicht einmal eine erhöhte Temperatur ist in ihrer Erinnerung verblieben.
«Warum habe ich ihr die Katze einfach weggenommen? Warum?»
Sie trinkt einen weiteren Schluck Wein, lässt das Glas noch einen Moment lang an ihrer Unterlippe haften. Dann hebt sie es erneut hoch, hält es gegen das Licht der Lampe. Da sind immer noch die gleichen Fingerabdrücke, die gleichen Spuren. Maria trinkt das Glas leer und wirft es an die Wand. Nachdem es in tausend kleine Teile zersprungen ist, hört sie ein Knurren im Badezimmer. Mehr nicht. Sie verharrt, wartet darauf, dass Hugo etwas sagt, doch er bleibt still. Schließlich steht sie auf und holt den kleinen Besen und die Schaufel, um die Scherben einzusammeln.