Das Thermometer zeigt gegen Mittag bereits 34 °C, die Hitze hängt in der trägen Luft, einmal mehr, wie so oft in den vergangenen Tagen und Wochen. Eine Fliege geht langsam über das Fenstersims, bleibt dann am Rand stehen, als wäre sie überwältigt vom Ausblick. Hanna betrachtet die Fliege, wartet darauf, bis sie sich wieder bewegt. Die Zeit kommt stumm zum Stillstand, die Welt pausiert. Schließlich fliegt die Fliege weg, ganz einfach und ansatzlos. Hanna starrt auf die Stelle, die sie leer zurückgelassen hat. Nur allmählich gelingt es ihr, den Blick zu lösen. Der Himmel ist hellblau und wolkenlos, die Bäume stehen starr im windstillen Tag.
Hanna stellt sich unter die Dusche, lässt kühles Wasser über ihren Körper rinnen. Sie denkt an die Rationierungen und Sparmaßnahmen, seift sich hastig ein und wäscht den Schaum weg, dreht das Wasser ab und wartet, bis ihre Haut ein wenig getrocknet ist. Manchmal sind ihr diese Arme und Beine noch immer suspekt, dieser Bauch, diese Brüste, dieses Kinn, alles wirkt wie lose Einzelteile, die kein Ganzes ergeben. Sie geht ins Schlafzimmer, stellt sich vor den Spiegel, betrachtet die Frau vor ihr. Bisweilen glaubt sie, dass sie eines Tages vor einen Spiegel treten wird und ihr Gegenüber nicht mehr erkennen kann. Sie zieht Slip und BH an, streift ein leichtes Sommerkleid über und verlässt das Haus.
Hanna geht zum Kiosk, kauft eine Packung Zigaretten. Wird 2003 der heißeste Sommer aller Zeiten?, fragt eine Zeitung in großen Lettern. Darunter ist eine Frau im Bikini abgebildet, die am Rand eines Schwimmbads sitzt und wirkt, als müsse sie sich keine Mühe geben, um elegant und attraktiv auszusehen, ihr Körper fügt sich nahezu selbstverständlich in das Bild, in die Welt. Die Frau sieht ein wenig aus wie Nita, denkt Hanna, obwohl man das Gesicht der Frau auf dem Foto nicht richtig erkennen kann. Zudem sind ihre Haare blond, nicht hellbraun wie jene von Nita. Natürlich ist es nicht Nita. Aber sie könnte es sein. Nita ist so.
Sie kennen sich seit der Grundschule, waren sich zunächst aber egal. Doch nachdem sie bei einer mehrtägigen Schulexkursion ein Zimmer hatten teilen müssen, waren sie Freundinnen. Nicht nur normale, alltägliche Freundinnen, sondern Freundinnen, die ein besonderes Band zwischen sich wussten, die einander die angefangenen Sätze zu Ende sprechen konnten, die sich als Einheit begriffen, welche sich durch nichts schwächen oder gar zerstören ließe. Sie gingen gemeinsam durch jene Jahre, in denen man sich immer wieder zu verlieren droht, jene Jahre mit dem ersten Sex, den ersten Drogen, den Eruptionen von Leere und Gewalt. Sie waren füreinander da, um die tiefen Wunden auszuhalten, sie kämpften zusammen gegen die Ohnmacht, gegen die erdrückende Last der Gefühle. Wenn eine von ihnen einen Moment der Schwäche erlebte, zeigte die andere ihre besondere Stärke. Trotzdem waren sie sich niemals etwas schuldig. Dieses besondere Band, dieses Selbstverständnis als Einheit, es war eine Selbstverständlichkeit.
Heute sind sie beide 21 Jahre alt, und die Selbstverständlichkeiten werden weniger. Während Hanna mit ihrem Fahrrad zum Badesee fährt, wo sie Nita treffen wird, denkt sie an eine Begebenheit zurück, die sich eine Woche zuvor ereignet hatte. Sie waren gemeinsam in einem Club, tanzten zu alten Discohits und tranken Gin Tonic und Cocktails, die sie sich von bekannten oder fremden Männern bezahlen ließen. Es war ein Abend wie so viele, mit zu viel Alkohol und konsequenter Oberflächlichkeit, doch an jenem Abend hatte Hanna ein Auge auf einen Mann geworfen. Er war nichts Besonderes, eher dünn, zartgliedrig und nahezu androgyn, doch er passte wohl irgendwie in ihre Stimmung an jenem Abend. Sie erzählte Nita davon, zeigte möglichst unauffällig auf den Mann und raunte ihr ins Ohr, dass er ihr gefalle. Für Hanna war damit klar, dass der Mann für Nita nicht mehr von Interesse sein konnte. Zwar war ihr bewusst, wie kindisch sie wohl war, diese stille Übereinkunft, dass jene, die einen Mann zuerst sah und für interessant befand, auch ein gewisses Anrecht auf selbigen genoss. Dennoch hielt sie sich konsequent daran – und wusste, dass sich auch Nita daran halten würde. Bis zu jenem Abend.
Hanna war nur schnell zur Toilette gegangen. Als sie zurückkam, sah sie, wie Nita ganz in der Nähe jenes dünnen Mannes tanzte, während Donna Summer von Hot Stuff sang. Zunächst dachte sie an einen Zufall, doch dann bewegte sich ihre Freundin auf den Mann zu, mit Bewegungen, die eindeutig genug waren, um ihre Absichten erkennen zu lassen. Der Mann ließ sich darauf ein, tanzte mit Nita, legte seine Hand auf ihre Hüfte und blickte ihr mit stechendem Blick in die Augen. Beinahe theatralisch drehten sie sich um eine gemeinsame Achse, als wären sie voneinander besessen, entwickelten sich mit jedem tanzenden Schritt zu einer immer innigeren Einheit. Hanna stand einige Schritte von ihnen entfernt und starrte auf die beiden Tanzenden, während der Rest der Welt sich ausklammerte. Donna Summer klang plötzlich wie ein betrunkener alter Mann, die Lichter im Club schienen zu flackern. Am liebsten wäre sie auf die beiden zugegangen, ohne zu wissen, was sie danach zu tun gedachte, doch sie konnte sich kaum bewegen, blieb einfach stehen und verfolgte den Tanz der beiden. Als der Song zu Ende war, erwartete Hanna wohl eine gewisse Interaktion, eine Art des Austausches. Doch der dünne Mann wandte sich plötzlich von Nita ab, ging mit federnden Schritten zu einem anderen Mann und küsste ihn auf die Lippen. Hanna blickte zu Nita, doch deren Gesicht verlor sich im blinkenden Durcheinander der Lichter, ohne jegliche Chance, darin lesen zu können.
Mehr geschah an jenem Abend nicht, zumindest nichts Außergewöhnliches. Nita und Hanna verließen den Club gemeinsam, gingen wie immer relativ wortkarg und erschöpft zu Nitas Wohnung, wo sie sich verabschiedeten. Dann lief Hanna die wenigen hundert Meter bis zu ihrer Wohnung. Seither haben sie nicht wirklich miteinander gesprochen, haben nur kurz telefoniert, um sich am Badesee zu verabreden.
Als Hanna ankommt, sieht sie Nita schon aus einiger Distanz. Sie liegt auf einem roten Frotteetuch auf der Wiese am Wasser, in ihrem schwarzen Bikini, raucht eine Zigarette und blickt hinaus auf den kleinen See, der eher ein Weiher ist. Auf einem Floss stehen junge Männer, springen in merkwürdigen Verrenkungen ins Wasser, stets ein wenig zu laut, ein wenig zu exaltiert. Nita beobachtet sie mit einem Lächeln auf den Lippen, und einen Moment lang ist Hanna neidisch, dass sie erst jetzt eintrifft und nicht schon längere Zeit hier ist, um die jungen Männer und ihre Aktionen zu betrachten. Nita ist drei Monate älter als sie, und manchmal hat Hanna den Eindruck, dass Nita durch diese drei Monate ein Vorteil erwachsen ist, den sie nicht mehr einholen kann. Wo auch immer sie hin will – Nita ist bereits da. Womöglich ist es ihr deshalb so viel wert, Nita nahe zu sein.
«Jungs und Wasser», sagt Hanna, als sie bei Nita eintrifft.
«Wunderschön, wie sie ihre Körper hineinwerfen. So unbekümmert und naiv.»
«Bist du schon lange hier?»
«Eine halbe Stunde vielleicht.»
«Wie geht‘s dir?»
«Okay», gibt Nita zurück. «Und dir?»
«Okay, glaube ich.»
«Bist du nicht sicher?»
«Keine Ahnung.»
Die jungen Männer auf dem Floss haben sich beruhigt, sie sitzen auf den Holzplanken und unterhalten sich, lachen bisweilen ausgelassen. Auch links und rechts von Hanna ist Lachen zu hören, die Menschen hier am Badesee wirken vergnügt. Ein junger Mann mit Rastazöpfen macht einen Handstand am Seeufer und wird von immer mehr Stimmen angefeuert. Als er schließlich ziemlich unelegant hinfällt, brechen die Leute in ein kurzes Johlen aus und klatschen begeistert. Bald darauf kehrt der übliche Geräuschpegel zurück, das Gemurmel und Gelächter von hundert Kehlen.
«Darf ich dich etwas fragen?», will Hanna wissen, nachdem sie sich zehn Minuten lang mit Banalitäten beschäftigt hatten.
«Klar», erwidert Nita.
«Letzte Woche, im Club… Hast du das mit Absicht getan?»
«Was habe ich mit Absicht getan?»
«Als du den Typen angetanzt hast?»
«Welchen? Den Schwulen?»
«Du wusstest ja nicht, dass er schwul ist», erwidert Hanna.
«Nein, wusste ich nicht.»
«Also, hast du es mit Absicht getan?»
«Ich verstehe nicht ganz.»
«Du hast gewusst, dass ich ein Auge auf ihn geworfen hatte. Oder? Trotzdem hast du ihn angetanzt. Und ich würde gern wissen, ob du es absichtlich getan hast.»
«Ich… Nein… Ich weiß nicht… Nein, natürlich nicht.»
«Aber du hast gewusst, dass er mir gefällt. Du hast gemerkt, dass ich… Du hast das gewusst. Ich habe es dir sogar gesagt. Trotzdem hast du keine Sekunde gezögert, als ich auf der Toilette war.»
«Woher willst du wissen, dass ich nicht gezögert habe?»
«Hast du gezögert?», fragt Hanna gereizt. «Hast du gezögert und dich dann dennoch entschlossen, ihn anzutanzen? Das macht es nicht unbedingt besser, verstehst du?»
«Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mir einfach nichts dabei gedacht.»
«Ich wäre enttäuscht, wenn du dir tatsächlich nichts dabei gedacht hättest. Und ich wäre enttäuscht, wenn du dir doch etwas dabei gedacht hättest.»
«Du bist offenbar auf jeden Fall enttäuscht von mir.»
«Ja, das bin ich wahrscheinlich. Und ich finde, ich bin es aus gutem Grund!»
«Aber es spielt doch keine Rolle! Er ist schwul.»
«Doch, es spielt eine Rolle, ganz egal, ob er schwul ist! Es geht schließlich nicht um ihn!»
«Ach, Hanna…»
«Was?»
«Es ist zu heiß, um zu streiten, findest du nicht? Es ist der heißeste Tag im heißesten Jahr aller Zeiten, verdammt. Wir sollten nicht streiten. Das ist nicht gut fürs Herz.»
In den folgenden Stunden reden sie weniger als an üblichen Samstagnachmittagen. Womöglich liegt es an der Hitze, die drückend über dem Badesee liegt. Womöglich liegt es daran, dass sich ihre Blicke im hellblauen Himmel über den Baumspitzen verlieren. Irgendwann lenkt Hanna ihre Aufmerksamkeit auf den See und hinaus auf das Floss. Die jungen Männer sind offensichtlich fortgeschwommen, das Floss ist leer. Hanna mustert die Wasserflecken, die ihre Körper auf den Holzplanken zurückgelassen haben. Sie überlegt sich, ob sie hinausschwimmen soll. Sie würde die kleine Metallleiter auf der Seite des Floßes emporklettern und sich dann hinsetzen, würde die Hände hinter sich auf das Holz legen und sich auf die Arme stützen, und dann würde sie jenen Teil der Welt beobachten, an welchem sie sich wenige Minuten zuvor noch aufgehalten hatte. Aus der Distanz würde sie Nita betrachten, die vielleicht ihren Blick in die Ferne schweifen lassen oder nahezu regungslos in der Hitze dösen würde. Vielleicht würden sich ihre Blicke dann irgendwann treffen. Hanna würde winken. Nita würde winken. Und dann würde Hanna ins Wasser springen und wieder ans Ufer schwimmen, zurück zu ihrem Platz neben Nita.
Während sie sich lächelnd in dieser Vorstellung verliert, dreht sich Nita neben ihr unvermittelt zur Seite und steht auf.
«Ich gehe ins Wasser», erklärt sie knapp und geht zum Seeufer. Hanna schaut ihr nach, beobachtet aufmerksam, wie ihr Körper ins Wasser taucht. Mit langsamen Zügen schwimmt Nita hinaus, nähert sich Meter um Meter dem Floss. Nachdem sie die künstliche Insel erreicht hat, klettert sie die kleine Metallleiter auf der Seite des Floßes empor, setzt sich hin, legt die Hände hinter sich auf die Holzplanken und stützt sich auf die Arme. Nita blickt hinüber zum Ufer, als würde sie etwas suchen. Schließlich reißt sie ihren Arm hoch und winkt ihr zu. Doch Hanna tut so, als ob sie Nita gerade nicht ansehen würde; in genügend großer Distanz lassen sich Blicke schließlich nicht mehr erkennen. Sie dreht ihren Kopf ein wenig zur Seite, starrt auf die Baumkronen in der Ferne. Dann legt sie sich hin und blickt nach oben. Der Himmel ist noch immer blau und wolkenlos.
Als Hanna mit ihrem Fahrrad nach Hause fährt, hält sie auf der kleinen Brücke an, die über den Bach führt, und steigt ab. Während sie auf das fließende Wasser starrt, sammeln sich in ihrem Kopf Erinnerungsfetzen. Sie denkt an eine Party, an welcher zwei junge Männer sich wie rivalisierende Gockel verhielten, um Nita zu beeindrucken, während Hanna danebenstand und an ihrer Bierflasche nippte. Sie erinnert sich an Thom, den Hanna eigentlich sehr gut leiden konnte und der vielleicht auch an ihr Interesse zeigte, das aber sofort einschlief, als sie ihm Nita vorstellte. Einmal probierten sie in einem Modegeschäft das gleiche Kleid an, und als sie vor dem großen Spiegel standen, wirkte Hanna viel kleiner und grauer als ihre Freundin. Vor einigen Wochen waren sie mit Freunden bis in die Nacht hinein am Badesee, und als Hanna vorschlug, nackt in den See zu springen, reagierte niemand, doch als Nita zwei Minuten später den gleichen Vorschlag machte, sprangen alle auf, streiften ihre Kleider ab und rannten ins Wasser. Bei einem Kurzurlaub auf einem Zeltplatz lagen Hanna und Nita nebeneinander auf der Wiese, blickten hinauf in den Sternenhimmel, und Hanna versuchte, über ihre Gefühle zu reden, über ihre Kindheit, über ihre Ängste; sie erachtete den Momente als wunderbar passend für tiefschürfende und gehaltvolle Gespräche, doch Nita konterte jede entsprechende Bemerkung von Hanna mit einem billigen Witz oder einem lapidaren Spruch, umschiffte die tiefen Stellen und blieb beharrlich im seichten Gewässer. Überhaupt fragt sich Hanna bisweilen, wie weit unter die Oberfläche sie bei Nita überhaupt gelangen könne. Zwar betont ihre Freundin immer wieder, wie wichtig und wertvoll ihre Freundschaft für sie ist, diese außergewöhnliche Beziehung, um die sie andere zweifellos beneiden würden. Doch manchmal befürchtet Hanna, dass da nicht so viel vorhanden ist, das zu Neid Anlass gäbe.
Im Bach fließt ihr ein kleiner Ast entgegen, bleibt hin und wieder an Steinen hängen und wird dann vom Wasser weitergeschoben. Irgendwann passiert der Ast die Brücke und verschwindet unter ihr. Hanna geht hinüber auf die andere Seite der Brücke und wartet, bis sie den Ast wieder sehen kann. Doch er scheint irgendwo festzuhängen, jedenfalls taucht er noch nicht auf. Hanna wartet und lässt ihren Blick ins Wasser tauchen. Während das Gurgeln des Baches stetig lauter wird, zerrinnt das Bild vor ihren Augen, verwischt und verschwimmt immer mehr.